Jeder kann Konflikte lösen

Armen Tõugu

Konflikte verweisen stets auf Schicksalssituationen, gleichgültig, ob es sich um innere oder äußere Konflikte handelt. Ihr Ursprung liegt in der Seele, im Geist, im Bewusstsein – auch wenn man sich um äußere Dinge streitet. Denn auch beim Streit um äußere Dinge geht es um Einstellungen, Haltungen und Empfindungen zu diesen Dingen. Konflikte haben etwas Bedrängendes – sie lassen uns nicht los. Sie haben mit uns zu tun – auch wenn sie scheinbar von außen kommen. Ich fühle mich bedrängt – von mir, von anderen, von der gesamten Situation. Ich weiß, es muss etwas geschehen. Ich muss handeln, ich kann so nicht weiter leben.

Jede Schicksalssituation ist wesenhaft. Sie spricht mich als Wesen an, sie konfrontiert mich mit anderen Wesen, Menschen, Personen. Will ich den Konflikt lösen, muss ich das Wesen erkennen, das hinter diesem Konflikt steht. »Es« ist etwas am Werk, das ich noch nicht sehen kann. Ich kann es nur an seinen positiven oder negativen Wirkungen erkennen. Es ist so, als ob ich mich in einem dunklen Raum befände, als wäre ich blind, merkte, dass mich etwas berührt, was ich aber nicht sehen kann Vielleicht ist die Berührung angenehm, vielleicht unangenehm. Mehr kann ich nicht wahrnehmen.

Will ich handeln, will ich wahrnehmen, was es ist, das mich berührt, muss ich es erkennen. Vielleicht ist dieses Erkennen unangenehm, vielleicht ist es eine Art Monster, das ich sehe, dessen Berührung von mir aber als angenehm empfunden wird. Oder umgekehrt: Etwas berührt mich unangenehm, dahinter verbirgt sich aber ein »gutes« Wesen, um mich vor einem Sturz in den Abgrund zu bewahren.

Habe ich das Wesen erkannt, habe ich seine Intentionen wahrgenommen, kann ich erst beginnen, einen Konflikt zu lösen. Die Erkenntnis des Wesens ist der Schlüssel für die Aufgabe, die mir eine schwierige Situation, eine Krise, eine Krankheit oder ein Konflikt stellt.

Rudolf Steiner hat Wege beschrieben, um zu dieser Wesens­erkenntnis zu gelangen. Unabdingbar, wenn auch schwer ist es, angesichts des Konflikts eine innere Ruhe herzustellen und mich dem, was den Konflikt in mir auslöst – sei es eine Situation oder ein Mensch – gegenüberzustellen. Ich muss versuchen, den Konflikt zu charakterisieren. Das auf mich unangenehm (oder auch angenehm) Wirkende muss zum Anschauungsobjekt für mich werden.

Diese Anschauung sollte möglichst präzise sein. Stehe ich im Konflikt mit einem anderen Menschen, vergegenwärtige ich ihn mir in all seinen Schattierungen, Äußerungen und Gesten. Ich bringe in ein Bild, was mich so berührt hat. Mache ich das intensiv genug, kann ich bemerken, wie ich mich aus der Rolle des Opfers befreie. Ich stelle mich auf die Seite des Wirkenden oder Täters. Ich erlebe die Intentionen des Wirkenden. Jetzt tauchen »neue« Gefühle auf, die ich sonst nicht wahrgenommen hätte.

Beginne ich die moralischen Intentionen des Gegenübers oder des Wesens zu erleben, dann erfahre ich etwas von seinem Charakter. Und ich lerne diesen Charakter von dem zu unterscheiden, was zwischen uns auch noch wirkt. Auf dieses Dritte gilt es den Blick zu lenken. Denn in Konflikten wirkt nicht nur das Seelische der an ihnen beteiligten Menschen, sondern auch etwas, das sich von ihm nährt, das die Meinungsverschiedenheiten oder Auffassungsunterschiede zur Eskalation bringt, das die Beteiligten benutzt, um sich durch sie zu entfalten. In diesen Kräften haben wir es mit Wesenhaftem zu tun.

Steiner hat solche Wesenheiten beschrieben, die sich von der menschlichen Konfliktbereitschaft nähren. Gelingt es uns, sie zur Anschauung zu bringen, ist es, als ob wir alte Bekannte wiedersähen.

In dem, was zwischen den streitenden Seelen webt, lassen sich drei Bereiche unterscheiden: zum einen das Reich der Naturwesen, der Elementarwesen und der Technikwesen. Diese wirken wie programmiert, sie sind gezwungen, so und nicht anders zu handeln. Dem zweiten Bereich gehören die lebenden, ungeborenen und verstorbenen Menschen an. Die Wahrnehmung dieser Wesen ist anders, man spürt eine Art menschlicher Verwandtschaft zu ihnen. Dann gibt es einen dritten großen Bereich geistiger Wesenheiten mit schöpferischem Willen. Sie unterscheiden sich nach Größe, Kraft und Macht.  Dazu gehören die Engelhierarchien, aber auch Luzifer und Ahriman.

Wir können an einem Konflikt also nicht nur die moralischen Intentionen des Gegenübers erleben, sondern auch das Geistige, das sich des Konfliktes zu bemächtigen versucht. Aus der differenzierten Anschauung der Gesamtsituation entsteht in einem feinen Prozess eine Art komplementäre Willensintention in uns – bildhaft gesprochen: zu der Farbe Rot entsteht die Farbe Grün. Diese komplementäre Intention ist ein Bild unserer ausgleichenden Aufgabe in einem Konflikt. Nun gilt es, diese Aufgabe, diese Willensintention so auszugestalten, dass sie der äußeren Situation entspricht. Blicken wir auf sie hin, dann befreit sie uns auch von der Verstrickung in jene Mächte, deren Interesse nur die Eskalation oder die Zementierung von Konflikten ist.

Ein konkretes Beispiel hierzu: Eine Frau hat einen starken Wunsch nach einem zweiten Kind, nachdem das erste nur äußerst kompliziert durch künstliche Befruchtung zur Welt gekommen ist. Nun ist aber auch dieser Weg verschlossen. Der Wunsch nach einem Kind ist gleichwohl groß. Die Frau wird bedrängt von diesem Wunsch. Was ist ihre Aufgabe? Soll sie dem Wunsch nachgeben, soll sie jedes Wünschen beiseite schieben? Der Konflikt ist da, in diesem Fall in ihr.

Auch hier ist die Frage, wer oder was steht hinter diesem Konflikt? Was ist der eigentliche Konflikt, was ihre Aufgabe?

Die Frau geht nun den geschilderten Weg, stellt die Situation aus sich heraus, stellt sich ihr gegenüber. In diesem Fall taucht die Erinnerung an den Tod der eigenen Mutter auf, als die Frau kurz vor der Geschlechtsreife stand. 

Sie erfährt innerlich, wie sie noch ganz umhüllt ist vom Seelenleib ihrer Mutter. Aus dieser Umhüllung wurde sie durch den frühzeitigen Tod herausgerissen. Ihr eigener Seelenleib konnte sich nicht voll entwickeln. Der Tod der Mutter verhinderte die Geburt der eigenen Seele. Die Geschlechtsreife kam nicht bis zum Abschluss, sodass die Fortpflanzungsfähigkeit eingeschränkt wurde, bis in das Physische hinein. Die Aufgabe ist nun klar: Wie kann die Geburt des eigenen Seelenleibes fortgesetzt und nachgeholt werden?

Wie soll das geschehen? Ich erlebe die Aufgabe als Willensimpuls. Wie kann ich den Willensimpuls nun so stark machen, dass er wirksam werden kann in der konkreten, spezifischen Situation?

Das kann mir nur gelingen, wenn ich in diesem Willensimpuls ebenfalls ein wirkmächtiges Wesen erkenne. Und dieses Wesen kann ich als mein höheres Ich ansprechen, in das mein Alltags-Ich eingebettet ist. Meine Aufgabe ist nun, die Verbindung zu diesem höheren Ich in meinem Willensimpuls wach zu halten. Trete ich mit diesem höheren Ich ins Gespräch, vermag ich zu erkennen, was sich in dem ursprünglichen Wunsch aussprechen wollte.

Bin ich diesen Weg einmal gegangen, kann ich ihn jeden Tag wieder gehen, um diese Verbindung zu pflegen. Jeden Tag muss ich das Erleben aufbauen und wirken lassen. Dieses Gespräch mit dem höheren Ich wird meine Konstitution bis in das Physische hinein umbauen.

So geht man bei jeder Situation vor. Das kann auch ein soziales Problem oder ein nationaler Konflikt sein. Stets sollte der Versuch unternommen werden, zu diesem höheren Ich in Verbindung zu treten, von dem aus die Heilungsimpulse im eigenen Willen entstehen. Ich kann keinen Frieden stiften, wenn ich ihn nicht in mir als Substanz erlebe.

Zum Autor: Armen Tõugu ist Pfarrer der Christengemeinschaft in Stuttgart-Sillenbuch. Dieser Beitrag entstand nach einem Ge­spräch, das er mit Ariane Eichenberg und Mathias Maurer führte und das anschließend von der Redaktion verschriftlicht wurde.