Jugendliche im Netz

Peter Loebell

»Ob etwas draußen auf der Straße passiert oder bei Instagram und Co« ist heute einfach kein Unterschied mehr – »es ist Teil unseres sozialen Lebens, also sind wir dabei«, so Robert Campe, ein sechzehnjähriger Schüler aus Hamburg in seinem Beststeller »What´s App Mama?« Für Jugendliche im 21. Jahrhundert scheint es selbstverständlich zu sein: Smartphone, Computer und Tablet bilden den Gerätebestand eines »normalen« Teenagers im Jahr 2017. Ein mobiles Telefon ohne Internetzugang ist dagegen völlig wertlos. Verwendet werden die Geräte für das Ansehen von Filmen (»Streaming«), das Hören von Musik, für online-Shopping oder online-Spiele, vor allem aber für den permanenten sozialen Kontakt.

Wie in früheren Generationen das Fernsehprogramm, so bestimmt heute das Internet mit seinen sozialen Medien den Tageslauf der jungen Menschen. Wenn morgens der Wecker klingelt, wird mit einem ersten Blick auf das Smartphone festgestellt, ob über Nacht neue Nachrichten oder Bilder eingetroffen sind. Völlig unverzichtbar ist dabei ein Nachrichtendienst wie WhatsApp, der vor allem dem schnellen Austausch kurzer Mitteilungen dient.

Für jugendliche Smartphone-Besitzer ist es selbstverständlich, fast ununterbrochen online zu sein und permanent über WhatsApp hin- und her zu schreiben. Studierende gehen davon aus, dass sie heute »mindestens alle fünf Minuten eine Nachricht« bekommen; sie müssen sich selbst zur längerfristigen Aufmerksamkeit zwingen und haben nicht selten das Gefühl, dass sie »unter Druck« am besten arbeiten können.

Wenn sich die Jugendlichen über das Weltgeschehen informieren wollen, gibt es Kurznachrichtendienste wie Twitter, die unglaublich praktisch erscheinen, »weil man nicht von Informationen erschlagen wird, sondern einfach nur einen kurzen Überblick bekommt – so wie man die Schlagzeilen der Tageszeitung überfliegt«, so Campe. Von wesentlicher Bedeutung seien außerdem die Videoclips auf YouTube, die ständig neue Szenen aus allen Lebensbereichen zeigen – »von Mode, Make-up, Lifestyle über Comedy und Web-Serien bis hin zu Wissen, Technologie und Computerspielen«. Campe räumt ein, dass er selbst 182 YouTube-Kanälen mehr oder weniger konsequent folgt, wobei sich die Nutzung gewöhnlich über den ganzen Tag verteile.

Auch das Portal »Instagram«, auf dem jeder Nutzer seine persönlichen Fotos zugänglich machen kann, wird von ihm regelmäßig aufgerufen – jede Stunde einmal. Alle jungen Menschen seiner Altersgruppe seien »schon mal im Instagram-Universum verloren gegangen«. Bilder und etwa fünfminütige Videos werden gegenüber den längeren schriftlichen Beiträgen in »Blogs« bevorzugt, da »YouTube und Instagram uns die gleichen Informationen in kompakter Form liefern«.

Warum es dabei immer schwieriger wird, Wahrheit von Falschmeldungen zu unterscheiden, erklärt die Expertin für Internettechnologie Catarina Katzer in einem Tagesschau-Interview am 20. Mai 2017: »Wir gewöhnen uns an kurze Häppchen, weil wir von einer Info zur anderen springen müssen. Wir wissen, dass wir nur zehn bis fünfzehn Prozent, von dem, was wir online aufrufen, lesen. Alles andere fällt sozusagen in ein schwarzes Loch. Wir werden immer oberflächlicher in der Informationsverarbeitung. Es findet überhaupt keine Diskussion im Kopf mehr statt. Ich nehme nicht mehr die Informationen wahr und gleiche sie irgendwie ab und überlege, könnte das stimmen oder nicht.« Gesucht wird der schnelle Überblick über aktuelle Ereignisse anstelle langwieriger Beschäftigung mit komplizierten Gedanken oder einer differenzierten Argumentation. Es geht um soziale Anerkennung, um das eigene positive Erscheinungsbild, um den schnellen Austausch von Informationen und Meinungen. Vor allem scheint es wichtig zu sein, nichts zu verpassen. Man kann jederzeit öffentlich oder im begrenzten Freundeskreis zeigen, welche Nachrichten, Bilder oder Videos man mag oder ablehnt. Alle denkbaren Informationen sind jederzeit verfügbar. Aber meistens geht es darum, Spaß zu haben oder witzig zu sein, ohne dass ein tieferer Sinn dahinterstecken muss; und beim Spielen auf dem Smartphone geht es in erster Linie um Zeitvertreib.

Inszenierung statt Erfahrung

Wenn die eigenen Erlebnisse medial vermittelt oder aufgenommen werden sollen, müssen die Nutzer der digitalen Medien sie in der Regel in Schriftform oder in Bildern festhalten. Es liegt daher nahe, eindrucksvolle Erfahrungen ausgiebig zu fotografieren, zum Beispiel eine gemeinsame Mahlzeit im Restaurant. Campe beschreibt, wie nach dem Servieren von Pizza und Pasta alle Familienmitglieder warten müssen, bis die Tochter das Essen aus allen denkbaren Perspektiven fotografiert hat. Nachdem sie auch noch auf den Stuhl gestiegen ist, um den edel gedeckten Tisch von oben festzuhalten, ist das Essen kalt geworden. Die Vielfalt gleichzeitiger Sinneserfahrungen, die beim Essen ein umfassendes Erlebnis vermitteln kann, verliert ihre Bedeutung angesichts der Inszenierung.

Wenn die Lebenswelt der Postmoderne weitgehend aus gestellten Bildern und inszenierten Nachrichten besteht, in denen die Wahrnehmungen auf das Sehen und Hören reduziert werden, bleibt der übrige Leib als Resonanzorgan ausgeschlossen. Die Empfindung des eigenen Leibes im Zusammenhang mit den übrigen Sinnen bildet aber die Grundlage für die Wahrnehmung der äußeren Wirklichkeit. Denn Tast-, Lebens-, Eigenbewegungs- und Gleichgewichtssinn wirken stets mit, wenn wir Gegenstände in unserer Umgebung erkennen. Nach Rudolf Steiners Auffassung entsteht durch das Zusammenwirken dieser Sinne mit der visuellen oder auditiven Wahrnehmung unser Bewusstsein für die Wirklichkeit. Wir empfinden die Objekte stets durch mehr als einen Sinn. Zum Beispiel wird in der Wahrnehmung der Außenwelt durch den Sehsinn »stets das eigene Sein dumpf mitempfunden«. Das Gesehene ruft im Betrachter die Vorstellung eines Gegenstandes hervor, gleichzeitig vermittelt der Gleichgewichtssinn eine unbewusste Empfindung, dass das Gesehene tatsächlich existiert. Dieses Zusammenwirken wird heute als »sensorische Integration« bezeichnet; sie bildet nach Steiner die Grundlage für den Wirklichkeitsbezug menschlichen Handelns.

Die Leibsinne ermöglichen uns nicht nur Wirklichkeit und Fiktion zu unterscheiden, sie beeinflussen auch unsere emotionale und mentale Auffassung der Welt.

So wurde in Studien zur »Embodied Cognition« festgestellt, dass Menschen mit einer aufrechten Körperhaltung und einem lächelnden Gesichtsausdruck sich leichter an positive Erfahrungen aus ihrem eigenen Leben erinnern als Versuchspersonen, die eine zusammengesunkene Haltung und eine negative Mimik einnahmen. Auch die Armbewegung beeinflusst offenbar unsere Gefühle und Einstellungen, je nachdem, ob wir die Hände auf uns zu oder von uns wegbewegen.

Der Bildschirm verunsichert

Für die Anerkennung der Realität und ein sicheres Urteil ist es wichtig, den eigenen Leib zu erfahren. Der Soziologe Hartmut Rosa stellt in seinem Buch »Resonanz« konsequenterweise die Frage »wie sich die Natur des menschlichen ... Weltverhältnisses ändert, wenn Bildschirme zum Leitmedium nahezu aller Weltbeziehungen werden«. Eine Teilhabe an der Welt, die sich weitgehend darauf beschränkt, auf einen Bildschirm zu starren, könnte den Nutzer immer stärker verunsichern – mit zwei möglichen Folgen: Entweder er schränkt die Nutzung der digitalen Medien radikal ein und nimmt das Risiko auf sich, seine sozialen Kontakte zu verlieren. Oder er könnte versucht sein, seine wachsende Unsicherheit dadurch zu kompensieren, dass er noch mehr Informationen aufsaugt. Daraus entsteht die zwanghafte Angst, etwas zu verpassen und den Kontakt zu dem Netzwerk der Bezugspersonen im Internet zu verlieren.

Und Robert Campe bestätigt: »Ich könnte gar nicht sagen, warum es für mich so mega wichtig ist, jede Nachricht sofort zu lesen. Vielleicht ist das so eine Art Kulturdings, also dass es für uns Teenager quasi einfach dazugehört, erreichbar zu sein und so schnell wie möglich zu antworten.« Weil er daran gewöhnt ist, jede Neuigkeit schnell zu registrieren und sofort zu kommentieren, ohne dass die Ganzheit seiner Sinneserfahrungen beteiligt wäre, bleibt der Vorgang stets unbefriedigend und muss durch immer neue Reize überlagert werden. Daraus entsteht eine Dynamik der Beschleunigung, die Hartmut Rosa in seinem Buch über »Beschleunigung und Entfremdung« so beschreibt: »Der Raum scheint sich dank der Geschwindigkeit von Transport und Kommunikation geradezu ›zusammenzuziehen‹.«

Wenn permanent eine unüberschaubare Menge an Informationen verfügbar ist, verhindert das die Übung des eigenen Denkens, durch das eine sinngebende Ganzheit des Lebens gestiftet werden könnte. Denn nur durch die eigene Denktätigkeit können die Erscheinungen der Welt innerlich nachgebildet und in ihrer Bedeutung erfasst werden. Zu den Kernkompetenzen, die die radikal veränderten Lebenswelten des 21. Jahrhunderts erfordern, gehört nach dem Stuttgarter Medienprofessor Frank Thissen neben kritischem Denken und Problemlösen, die Informationskompetenz, »das heißt, die gezielte Auswahl, kritische Bewertung und angemessene Nutzung von Informationen« sowie die Fähigkeit zum verantwortlichen Umgang mit sozialen Medien. Das bedeutet nicht nur, dass man mit den neuen Techniken umgehen, sondern dass man auf Grundlage allgemeiner Sinneserfahrungen umfassend urteilen kann. Eine vermeintliche »Medienkompetenz« im Sinne der unreflektierten Nutzung von Kommunikationstechniken verhindert womöglich gerade, dass Jugendliche die neue Technik verstehen und verantwortungsvoll anwenden.

Nur wer seinen Leib wahrnimmt, kann anderen begegnen

Die unterbewusste Wahrnehmung des eigenen Leibes bildet nicht nur eine wesentliche Grundlage für die Auffassung der Wirklichkeit, sondern auch für die Begegnung mit anderen Menschen. Indem sie andere nachahmen, betätigen kleine Kinder ihren ganzen Leib als Resonanzorgan für die innere Haltung und die seelische Gebärde des Wahrgenommenen. Durch die Embodiment-Forschung konnte gezeigt werden, dass die Resonanzbeziehung zwischen Menschen nicht auf neuronale Vorgänge begrenzt ist. Denn die Wahrnehmung von Bewegungen oder das Beobachten der Mimik anderer Menschen führt unmittelbar zu einer entsprechenden Betätigung der eigenen Muskulatur, wie der Erziehungswissenschaftler Christian Rittelmeyer feststellte. Wer einen traurigen oder fröhlichen Gesichtsausdruck betrachtet, spannt automatisch diejenigen Gesichtsmuskeln an, die man betätigen muss, um den betrachteten mimischen Ausdruck hervorzubringen. Nachahmung beruht also grundsätzlich – auch beim Erwachsenen – auf einer äußerlich kaum sichtbaren Aktivität des eigenen Leibes, bevor durch das neuronale System eine bewusste Empfindung entsteht.

Die modernen Forschungsergebnisse bestätigen Hinweise Rudolf Steiners, der bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts soziale Sinnesmodalitäten beschrieben hat, durch die wir die Gedanken und das Ich eines anderen Menschen wahrnehmen können: Die Wahrnehmung fremder Gedanken entsteht durch eine innere Aktivität, durch die ich die Denktätigkeit des Anderen unter Verzicht auf eigene Vorstellungen nachahme.

Dieser Vorgang lässt sich nicht auf eine bestimmte Körperregion, auch nicht auf das Gehirn begrenzen. Mein ganzer Leib und all meine Sinnesorgane sind auch an der Wahrnehmung des anderen Ich beteiligt. So erfahre ich mein Gegenüber nicht als Summe einzelner Merkmale, sondern als ein Ganzes. Vor diesem Hintergrund erhalten die realen, interessebegleiteten menschlichen Begegnungen mit ihren Unwägbarkeiten, Möglichkeiten und Risiken eine unschätzbare Bedeutung.

So rät auch Campe Eltern, die über den exzessiven Medienkonsum ihrer Kinder besorgt sind: »Und wenn ihr wirklich das Gefühl habt, dass euer Teen zu sehr in die bunte Serienwelt abdriftet – vielleicht liegt das Problem ja dann ganz woanders? Läuft vielleicht irgendwas gerade so richtig mies, dass der Nachwuchs so wegflüchten muss? Das gute alte Gespräch könnte hier helfen.«

Zum Autor: Prof. Dr. Peter Loebell ist Professor an der Freien Hochschule Stuttgart

Literatur: T. Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, Stuttgart 2010 | S. C. Koch: Embodiment. Der Einfluss von Eigenbewegung auf Affekt, Einstellung und Kognition, Berlin 2013 | G. Lembke/I. Leipner: Die Lüge der digitalen Bildung, München 2015 | Chr. Rittelmeyer: Leibliche Erfahrung und Lernen. Über den Sinn einer allseitigen Sinnesbildung. In: R. Hildebrandt-Stramann / R. Laging, K. Moegling (Hrsg.): Körper, Bewegung und Schule. Teil I: Theorie, Forschung und Diskussion, Kassel 2013 | R. Steiner: Von Seelenrätseln, GA 21, Dornach 1983 | F. Thissen: Lernen und Leben im 21. Jahrhundert. In: Universitas, 71/2016