Jugendliche Sinnsucher brauchen mutige Lehrer

M. Michael Zech

Jugendliche wachsen heute in Mitteleuropa in eine Welt hinein, die ihnen so offensteht wie noch nie zuvor, zu welcher der Zugang aber auch streng reguliert wird. Denn die Teilhabe an der Berufswelt und höherer Bildung ist zunehmend an Prüfungsergebnisse und Noten geknüpft. Beides hängt mit der Globalisierung zusammen. Dass die Herausforderungen – zumindest von heutigen Waldorfschülern –, nicht in ihrer näheren Umgebung, sondern häufig sogar auf anderen Kontinenten gesucht werden, zeigen die Praktika, Ferienfahrten und vor allem der Zulauf, den die Freiwilligendienste erleben. In fremder Umgebung begegnen sie dem Leben unmittelbar und begreifen dabei das, was ihnen entgegentritt, oft als Aufgabe: Ihr moralisches Empfinden entzündet sich an konkreten Situationen.

Zahlreichen Essays, mit denen sich Schüler für die Teilnahme am Kasseler Jugendsymposion bewerben, ist zu entnehmen, wie die Konfrontation mit dem Anderen wirkt: Die Jugendlichen reflektieren sich und indem sie sich mit den Lebensauffassungen anderer Kulturen auseinandersetzen, deuten sie ihre eigene Welt neu. Die jungen Menschen suchen sich und ihr Leben im globalen Handlungsraum zu realisieren. Auf der anderen Seite aber wird über Medien und die politischen Rahmenbedingungen der Schulbildung die ökonomisch dominierte Wettbewerbs- und Konkurrenz­-idee vermittelt. Lebenschancen, so lautet die Botschaft, sind gekoppelt an messbare Erfolge und Spitzenleistungen, die in zentralen Prüfungen und Bewerbungsverfahren erbracht werden müssen. Die Zugänge zum gesellschaftlichen und ökonomischen Leben hängen davon ab, wie die Jugend­lichen äußeren Anforderungen gerecht werden. Sie finden ihren Weg ins Leben durch diese Reglementierung verstellt und sehen sich vom Mitwirken unter Einbringung der eigenen Intentionen ausgeschlossen. Diese Situation betrifft auch Waldorfschulen. Auch sie werden in ihrer pädagogischen Realität durch die selektierende Berechtigungskultur geprägt.

Erwachsene, die Sinn suchen, stehen hoch im Kurs

Gerade die Jugendlichen sind es, die mit ihren Fragen und Interessen nahe legen, schulisches Lernen nicht nur in den Dienst der Zugangsberechtigung zu stellen. Nach wie vor – oder vielleicht auch mehr denn je – honorieren sie jeden Unterricht, der von konkreten Beobachtungen oder lebendigen und wirklichkeitsbezogenen Darstellungen ausgeht, eigene Urteile anregt und den Erkenntnisprozess in vertiefte Fragestellungen und erweiterte Zusammenhänge führt. Insofern stehen die Fachkompetenz und der Mut von Lehrern, sich auf Fragen einzulassen, bei Schülern hoch im Kurs. Vor allem dann, wenn sie das Lernen mit einem wahrnehmenden Interesse an dem verbinden, was in den Schülern durch die schulisch organisierte Weltbegegnung angeregt wird. Diese Verbindung von fachlich geprägtem Weltinteresse und Aufmerksamkeit für die erwachende und sich artikulierende Persönlichkeit weckt in den Schülern Vertrauen. Schüler haben das Bedürfnis, in ihren Lehrern Menschen zu erleben, die im Leben wie in der Welt Sinn suchen, die davon ausgehen, dass Erkenntnis sinnstiftende Wirkung hat.

Dabei zeigen Jugendliche heute in der Regel wenig Interesse an in sich abgeschlossenen großen Konzepten. Ihre Skepsis gegenüber ideologischen Welterklärungen resultiert jedoch weniger aus den schlechten Erfahrungen früherer Generationen, als vielmehr aus dem Bedürfnis, Sinn und Deutung aus der unmittelbaren Begegnung und Erfahrung zu schöpfen. Deshalb begegnen sie Funktionären politischer, kultureller oder weltanschaulicher Ideen häufig mit Indifferenz. Noch bevor Jugendliche mit ihnen aktiv in Beziehung treten, zeigen sie sich von den etablierten Einrichtungen und dem Auftreten ihrer Repräsentanten enttäuscht.

Selbst Erlebtes und Anwendbares ist gefragt

Bei vielen Schülern tritt weniger das Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konzepten oder Weltanschauungen zutage, als vielmehr das Streben, Ideal und Realität, innere Erfahrung und äußere Handlung im konkreten Lebensvollzug zu verbinden. Zur Überraschung der Veranstalter des Kasseler Jugendsymposions lebt gerade bei den sozial, politisch und auch ökonomisch orientierten Schülern ein reges Interesse an spirituellen Fragen. Dabei erfreuen sich Themen, in denen Welterklärungen angeboten werden, geringer Nachfrage, während Kurse sofort ausgebucht sind, die auf die Entdeckung der eigenen Seele und innere Erfahrungen zielen oder Philosophiekurse, in denen Denk- und Deutungsangebote erschlossen und in eigene Überlegungen überführt werden können.

Idealismus und wirtschaftlicher Erfolg sind keine Gegensätze

Der Gegensatz von Idealismus oder Innenorientierung und Realismus oder Außenorientierung gilt für Jugendliche und junge Erwachsene nicht mehr. Für die zahlreichen Jugendlichen, die schon als Schüler unternehmerisch tätig sind, die eigene Firmen oder Sozialprojekte gegründet haben, sind Idealismus und materieller Erfolg keine Gegensätze, sondern sich gegenseitig befruchtende Pole. Soziales Engagement wird unternehmerisch interpretiert, wobei solche Projekte nur teilweise mit der Idee, aber umso stärker mit der eigenen Persönlichkeit identifiziert werden.

Es ist eine Herausforderung für die Waldorfschulen und die ihnen zuarbeitenden Einrichtungen der Lehrerbildung, Menschen für eine Jugendpädagogik zu gewinnen, die an diese Lebenshaltungen anknüpft. Gebraucht werden Idealisten, die ihr Fach lieben und aus dessen Perspektive die Welt erschließen und verstehen. Idealisten, die Jugendliche ermutigen, die Welt als individuelle Aufgabe zu betrachten und darin bestärken, den Anspruch an sich selbst nicht ängstlicher Karriereorientierung zu opfern.

Gesucht werden Menschen, die zur Vermenschlichung des globalen Zusammenlebens beitragen, indem sie die Individualisierungsprozesse von Jugendlichen schulisch begleiten. Menschen, die individuelle Verantwortung für eine fachlich fundierte und der Entwicklung ihrer Schüler dienende Umsetzung des Lehrplans übernehmen und die daran mitwirken wollen, einen Ausgleich zwischen solider Prüfungsvorbereitung und personalem Lernen zu finden, das den eigentlichen Bildungsprozess definiert.

Infos zur Ausbildung von Oberstufenlehrern finden sie auf der Website des Bundes der Freien Waldorfschulen: waldorfschule.info

Zum Autor: Dr. M. Michael Zech ist Waldorflehrer für Deutsch, Geschichte und Sozialkunde, hauptamtlich Dozent am Lehrerseminar für Waldorfpädagogik in Kassel und Juniorprofessor für Geschichtsdidaktik an der Alanus Hochschule.