Das Kinderhaus in der Kräuterklinik

Beate Naefe-Storm

Jan ist ein schlaksiger zwölfjähriger Junge – die brünetten Haare fusseln ihm ins Gesicht, die großen Augen strahlen. Er kommt direkt aus dem Computertomographen, seit seiner frühen Kindheit hat er einen Gehirntumor. Zuerst war der Junge in Hamburg in Behandlung, dort entließ man ihn mit dem Hinweis auf die anstehende Pubertät und deren nicht einschätzbare Auswirkungen auf den Tumor. Seitdem ist er in Herdecke in Behandlung. Sein Vater sagt, das sei die beste Entscheidung gewesen, denn hier habe man einen festen ärztlichen Ansprechpartner, und überhaupt sei alles so anders hier. Man fühle sich wohl. Jan nickt dazu. Und so fährt diese Familie, die aus Schleswig-Holstein kommt, rund fünfhundert Kilometer, um ihren Sohn behandeln zu lassen.

Warum? Der leitende Kinderarzt, Alfred Längler, der schon seit seiner Studienzeit in Herdecke wirkt, meint, das liege daran, dass nicht nur das medizinische Reparieren im Vordergrund stehe. Das Besondere sei die andere Sicht auf den Patienten, die integrative Medizin, die Auffassung, dass Krankheiten auch Teil des biografischen Weges des Menschen sind.

Herdecke liegt als Gemeinschaftskrankenhaus mitten im Ruhrgebiet. Etwa achtzig Prozent der Patienten haben keinen Bezug zur Waldorfpädagogik oder Anthroposophie.

Heutzutage bleiben die Kinder im Schnitt drei bis vier Tage auf der Station. Nicht viel Zeit, um eine andere Medizin kennen zu lernen: Hier ein Wickel, dort eine Einreibung – das kann das Geheimnis nicht sein.

Tom ist sechs Jahre alt, er ist seit seiner Geburt schwerst behindert. Vor wenigen Tagen war sein Zustand nach einer Meningitis so ernst, dass er ins Koma gefallen war und wenig Hoffnung bestand. Bevor seine Mutter mit ihm ins Hospiz gehen wollte, kam noch einmal Elisabeth, die seit über zwanzig Jahren dreimal die Woche auf der Station Klavier spielt, mit den Kindern und ihren Eltern singt, und die Tom, der seit Jahren hier behandelt wird, gut kennt. Während Elisabeth für ihn spielt, erwacht Tom aus seinem Koma und beginnt gleich in seiner eigenen Sprache zu sprechen. Dass so ein Wunder geschehen kann, liegt nicht nur an der Musik, an der freundlichen Atmosphäre, daran, dass Schwestern, Ärzte und Patienten sich kennen und in gegenseitiger Anerkennung vertrauensvoll zusammen­arbeiten. Die  »Halbgötter in weiß« existieren nicht, die integrative Medizin hat sich aus ihrem Schattendasein herausgearbeitet.

Längler vergleicht diesen Prozess der Akzeptanz mit dem Werdegang der Partei »Die Grünen«, die fast gleichzeitig mit dem Krankenhaus in Herdecke gestartet sind und ebenso wie die Anthroposophische Medizin aus der obskuren Nische zu einem verantwortungstragenden, wohlakzeptierten, gesellschaftlichen Faktor geworden ist.

Eine Schule für kranke Kinder

Zur besonderen Herdecke-Qualität trägt auch die krankenhausinterne Ita-Wegmann-Schule bei. Der Schulleiter Rüdiger Reichle und sein Team betreuen rund siebzig Schüler von der ersten bis zur zwölften Klasse in kleinen Gruppen während ihres Krankenhausaufenthaltes. Der Großteil der Schüler kommt aus der psychiatrischen Abteilung, was dadurch bedingt ist, dass diese Kinder und Jugendlichen sich länger im Krankenhaus aufhalten müssen. Viele dieser Kinder, so berichtet Reichle, leiden an Angststörungen, was bedeutet, dass der Besuch der Klinikschule eine wichtige Rolle für die Zeit nach dem Krankenhausaufenthalt spielt. Ein Drittel der Schüler wechselt im Anschluss an den Krankenhausaufenthalt die Schule, die Schulform oder Klassenstufe, das haben statistische Erhebungen ergeben. Das Ziel, das diese Schulform erreichen kann, formuliert Kevin, der mehr als vierzig Tage bleiben konnte: »Ich habe in dieser Zeit an der Ita-Wegmann-Schule die Erfahrung gemacht, dass, wenn ich etwas will, ich es auch schaffen kann, und dass ich viel mehr kann, als ich oder andere mir zutrauen«. Herdecke ist das einzige anthroposophische Krankenhaus mit einer Schule für Kranke.

Gegessen wird gemeinsam

Zurück auf die Kinderstation. Das gemeinsame Essen aller kleinen Patienten und ihrer Eltern steht an. Schnell rechnet Schwester Christel noch mit einem neunjährigen Dia­betiker aus, wie viele Broteinheiten sein Essen enthält, dann wird gemeinsam gespeist. Gemeinsam bedeutet, auf dieser Station gibt es krebskranke Kinder neben denen, die sich ein Bein gebrochen haben. Dies ist auch ein Spezifikum Herdeckes und hat, wie Schwester Christel sagt, den Vorteil, dass der Blick der kranken Kinder und ihrer Eltern auch mal über den Tellerrand geht.

Wie wichtig allen, die auf der Station arbeiten, das Gemeinschaftliche ist, zeigt sich auch daran, dass seit über zwanzig Jahren ein Morgenkreis gepflegt wird.

Für den Kinderarzt Längler ist das Besondere an Herdecke auch seine Lage mitten im Ruhrgebiet: anthroposophische, intergrative Medizin nicht nur für gehobene, akademische Schichten. Auch wenn er sich spendenfreudige Investoren wünscht, die mit zwanzig Millionen der etwas gammeligen äußeren Hülle des Krankenhauses auf die Beine helfen könnten. Denn drinnen, sagt Längler, überzeugten Ärzte, die wissen, dass ein gutes Krankenhaus mehr sein muss als ein Reparaturbetrieb für den kranken Körper; dass jede Entscheidung für und gegen eine Therapie sich nicht nur unmittelbar auf den kleinen Patienten auswirkt, sondern auch auf seine Biografie und die seiner Angehörigen.

Was sagte der Taxifahrer zu der Mutter, als sie mit ihrem kranken Kind nach Herdecke fahren wollte: »Was – in die Kräuterklinik?« »Ja, genau dahin«, entgegnete die Mutter.

Zur Autorin: Beate Naefe-Storm, Studium der Germanistik, Geschichte, Politik und Philosophie. Oberstufenlehrerin an verschiedenen Waldorfschulen in Norddeutschland, journalistische Tätigkeit, Mutter von drei Söhnen.

Link: www.gemeinschaftskrankenhaus.de