Ganzheitliche Beratung. Das Familienforum auf der Havelhöhe Berlin

Kirsten Schreiber, Christoph Meinecke

Jonas ist 13, seine Mutter kommt zur Beratung ins Familien­forum. Die Schule hat sie geschickt. Wenn Jonas sein Verhalten nicht ändert und keine Therapie beginnt, muss er die Klasse verlassen. Er stört permanent den Unterricht, streitet häufig mit Klassenkameraden und provoziert die Lehrer. Er hat sich in eine Außenseiterrolle manövriert, kleinere Diebstähle hat es auch schon gegeben. Am Unterricht beteiligt er sich nicht mehr, seine Leistungen sind rapide schlechter geworden.

Jonas lässt nicht mit sich reden. Er verschließt sich zunehmend. Die Eltern und Lehrer kommen nicht mehr an ihn heran. Die Mutter hat völlig den Überblick über die schulischen Leistungen und das Hausaufgabenpensum ihres Sohnes verloren. Es kommt zu ständigen Auseinander­setzungen, Ermahnungen und Wutanfällen – auf beiden Seiten. Sie weiß nicht mehr weiter. Bis zur 5. Klasse hat es keine Probleme gegeben. Auch die Zeugnisse waren bis dahin in Ordnung …

Ähnlich wie Jonas und seiner Familie geht es vielen, die sich an das Familienforum Havelhöhe wenden. Jede Beratung gestaltet sich zwar individuell, doch vorweg klären wir folgende Fragen: Was könnte das Kind brauchen, damit es ihm in der Schule, im Freundeskreis und zu Hause besser geht? Wie könnte es durch das Umfeld (Eltern, Lehrer, Erzieher, Paten oder Kirchengemeinde) dabei unterstützt werden? Welche Unterstützung brauchen wiederum Eltern, Lehrer und Erzieher, damit dies möglich ist? Was kann das Familienforum an pädagogischer oder therapeutischer Unterstützung bieten?

Der ganzheitliche Blick

Eltern und Lehrer wünschen sich oft eine Erklärung für das »auffällige« Verhalten der Kinder. Eine psychologische oder medizinische Diagnostik kann hierauf unter Umständen eine Antwort geben. In Teambesprechungen und Kinderkonferenzen mit Ärzten und Psychiatern werden dann im individuell abgestimmten Rahmen therapeutische Maßnahmen, wie zum Beispiel heilpädagogische Förderung, Psychotherapie, anthroposophische Therapien oder systemische Familientherapie verordnet, die auch im Familienforum selbst erbracht werden können.

Wir gehen davon aus, dass das Verhalten eines Einzelnen immer  in einem Umfeld steht und von diesem beeinflusst wird, also nicht nur als individuelles Problem verstanden werden kann.

Daraus ergibt sich nicht nur eine Erklärung oder ein Verständnis für das Verhalten eines Kindes, sondern auch ein Lösungsansatz: Wenn alle Beteiligten anders miteinander umgehen und sprechen, wird sich auch das Verhalten des »Problem-Kindes« verändern.

Das kann nur geschehen, wenn die engsten Bezugspersonen – Elternhaus, Lehrer, Erzieher – zugunsten des Kindes zusammenarbeiten. Sie entwickeln gemeinsam Ideen, wie sie selbst in ihrem alltäglichen Umgang mit dem Kind etwas verändern können, damit es ihm und allen Beteiligten miteinander besser geht.

»Probleme« sind Symptome, deren Sprache verstanden werden muss

Je nach Problemlage braucht es dazu unterschiedlich intensive Unterstützung. Unter Umständen reichen wenige Beratungstermine oder gemeinsame Gespräche mit Eltern und Lehrern, um herauszufinden, was das Kind gerade benötigt und worauf es mit seinem Problemverhalten hinweisen möchte.

Reicht dies nicht und liegt die Indikation für eine stationäre psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung in einer Klinik noch nicht vor, so können Familien ambulant in der Erziehung ihrer Kinder unterstützt werden. Sie können ihr gesetzlich gesichertes Recht auf »Hilfen zur Erziehung« nach dem Sozialgesetzbuch VIII in Anspruch nehmen. Auch diese Unterstützung wird auf einen Antrag der Familie hin und nach einer Genehmigung durch das Jugendamt vom Familienforum Havelhöhe selbst geleistet. Bei den von uns angebotenen Hilfen zur Erziehung (Familienhilfe nach §31 SGB VIII und Einzelfallhilfe) handelt es sich primär um ambulante pädagogische Hilfen, die auf den Bedarf der Familien zugeschnitten werden, gegebenenfalls ergänzt um therapeutische Anteile.

Hilfe muss konkret sein

Besonderes Merkmal dieser Hilfen ist, dass sie konkret im Alltag und in den einzelnen Problemsituationen ansetzen, das heißt, es wird zu Hause, im Kindergarten, in der Schule, im Verein gearbeitet. Der Pädagoge ist dabei direkter Ansprechpartner und kann situationsgerecht und vorbildhaft pädagogisch eingreifen. Ziel ist es auch, die Familie und andere Bezugspersonen zu coachen, damit sie besser mit problembelasteten Situationen umgehen können. In den durchschnittlich vier bis zehn Wochenstunden, in denen der Pädagoge hier der Familie und anderen Bezugspersonen zur Verfügung steht, können so über einen Zeitraum von meist etwa einem bis maximal zwei Jahren Verhaltensänderungen eingeübt und gefestigt werden.

Eine offene Tür

Nicht selten wird die Bereitschaft von belasteten Familien, sich in schwierigen Situationen Unterstützung zu holen, durch Vorbehalte gegen die Beratungsstellen erschwert.

Diesen Hemmungen begegnen wir mit einem offenen, niederschwelligen Angebot bedarfsorientierter Beratung: dem Familien-Café »Spielraum« und der Bastelstube.

Jeweils in wöchentlichem Wechsel kommen hier Eltern, Großeltern und Kinder zum Frühstücken oder Basteln zusammen. Sie werden dabei von einer pädagogischen Fachkraft ehrenamtlich begleitet, können Kontakte knüpfen, sich mit anderen austauschen und Fragen zur Erziehung, Pflege oder sonstigen Familienthemen stellen.

Kleine Kinder können im »Café Spielraum« ihre Entdeckungen machen, gestillt und gewickelt werden.

Eltern trainieren für ihre Kinder

Als Präventivangebot und als pädagogisch-therapeutische Handreichung für Eltern mit sogenannten »schwierigen« Kindern haben wir ein Elterntraining  entwickelt, das seit 2008 zweimal jährlich angeboten wird. Hier verbessern die Eltern unter Anleitung zweier Trainer mit Hilfe von Rollenspielen, kreativen und praktischen Übungen ihre Wahrnehmung, Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion und Kommunikation, ergänzt durch kurze theoretische Vorträge.

Ein besonderes Anliegen ist es, Eltern beizubringen, wie sie sich und ihre Familie gesund erhalten können. Dabei geht es um gesunde Ernährung, Kleidung, die Schlafumgebung und Tagesgestaltung. Dazu kommen Methoden, fieberhaften Erkrankungen natürlich zu begegnen und Krankheiten vorzubeugen mit einfachen Therapien für Kinder, wie Auflagen, Wickel und Bäder.

Angebote für werdende ...

Ein wesentlicher Baustein unseres Präventionskonzepts ist das Angebot für Eltern noch ungeborener Kinder (»Baby-Vorbereitungskurse«). Die Kurse bieten Anregungen und Information darüber, wie eine einfühlsame Beziehung von Anfang an wachsen und die gemeinsame Freude am täglichen Miteinander entwickelt werden kann. Die Säuglingspflege wird auf Grundlagen der anthroposophischen Menschenkunde, der Kleinkindpädagogik nach Dr. Emmi Pikler, der Waldorfpädagogik und der Bindungsforschung vermittelt, angeleitet und erübt.

... und gewordene Eltern

Seine Fortsetzung findet dieses Angebot nach der Geburt des Kindes. »Spielraum für Kinder – Lernraum für Eltern« ist das Motto der einmal wöchentlich stattfindenden Spielgruppen für Kinder ab vier Monaten.

Die Kinder der Gruppe ab vier Monaten kommen mit ihren Eltern in einen schlichten Raum, der mit einfachen Spielelementen wie Tüchern, Bällen, Schüsseln, Polstern und niederen Kisten vorbereitet ist. Die Spielstunde beginnt und endet mit pentatonischen Liedern. Die Kinder liegen in der Mitte des Raumes auf dem warmen Boden, die Eltern sitzen im Kreis und nehmen das Spiel der Kinder aufmerksam wahr, ohne einzugreifen. Dabei können sie beobachten, wie die Kinder selbstständig lernen, immer komplexere Bewegungsabläufe auszuführen.

Den älteren Kindern werden anspruchsvollere Spiel­elemente wie Becher, Holzklötze, Holzlöffel, Körbe, Hocker, Podeste, Rutschen, einfache Leitern und Balancierelemente angeboten. Die Eltern beobachten, wie die Kinder gehen lernen, zueinander Beziehungen aufnehmen und entdecken ihre Besonderheiten; dadurch gewinnen sie Vertrauen in die Entwicklungskraft der Kinder.

In Elternabenden oder persönlichen Einzelgesprächen betrachten wir Situationen aus dem Spielraum und sprechen ausführlich über Entwicklungs- und Erziehungsfragen.

Was geschieht mit Jonas?

Doch zurück zum eingangs geschilderten Beispiel. In wenigen Beratungsgesprächen mit der Mutter und einem gemeinsam moderierten Gespräch mit Jonas, der Mutter und den Lehrern kann in einer geschützten Atmosphäre formuliert werden, dass die Mutter das Vertrauen in die Lehrer verloren hat, da sie deren Schilderungen als einen Angriff auf ihre erzieherische Kompetenz empfindet. Jonas hingegen fühlt sich in der Schule ungenügend wahrgenommen und in seinen Stärken unterschätzt. Er findet, dass alle immer nur auf ihm rumgehackt und nach seinen Fehlern gesucht hätten. Es lohne sich für ihn gar nicht, sich anzustrengen, er bekäme sowieso nur negative Rückmeldungen, daher mache er lieber gleich »dicht«. Die Lehrer beschreiben, wie sie durch die penetrant passiv-ablehnende Haltung von Jonas jeglichen Versuch aufgegeben hätten, an ihn heran zu kommen. Alle Angebote seien auf Widerstand gestoßen. Die Hausaufgaben seien schon seit langem nicht mehr erledigt worden.

Gemeinsam erarbeiten wir Lösungsvorschläge. Die Gruppe vermutet, dass Jonas tägliche Rückmeldungen – sowohl positiv wie negativ – helfen könnten, sich und seine Leistungen besser einzuschätzen. Alle beteiligten Lehrer verpflichten sich dazu. Zudem wird konsequent ein Hausaufgabenheft geführt. Die Mutter verpflichtet sich, die Erledigung zu überwachen. Hat sie das Gefühl, dass Jonas überfordert wird, soll sie das den Lehrern sagen. Zudem soll Jonas weniger fernsehen und weniger vor dem Computer sitzen. Der Vater wird mit Jonas an den Wochenenden Klettern gehen – eine Leidenschaft, die beide haben, die aber in Vergessenheit geraten ist. Jonas wird wieder regelmäßiger zum Sportverein gehen und er freut sich auf die Paddel­freizeit in den Sommerferien.

Fazit nach einigen Wochen: Das Selbstbild und die Moti­vation von Jonas haben sich verbessert, Mutter und Sohn fühlen sich durch die Schule wieder ernst genommen, alle Beteiligten beschreiben eine Verbesserung der Beziehungen und der Kommunikation untereinander. Die Hausaufgaben werden wieder zuverlässiger gemacht. Jonas hat sich seither nicht wieder geprügelt. Bei erneuten Problemen kann das Familienforum kurzfristig angesprochen werden und schnell und unbürokratisch helfen.

Zu den Autoren: Kirsten Schreiber, Dipl. Sozialpädagogin, Systemische Paar- und Familientherapeutin (DGSF), Musiktherapeutin (DMVO) am Familienforum Havelhöhe und in der Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Medizinischen Versorgungszentrums Havelhöhe, Mitbegründerin und Mitgeschäftsführerin der Familienforum Havelhöhe gGmbH. Verheiratet, eine Tochter.

Dr. Christoph Meinecke, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Psychotherapie, anthroposophische Medizin (GAÄD); tätig in freier Praxis und in der Neugeborenenversorgung am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin, Vater von 5 Kindern, Mitbegründer und Mit-Geschäftsführer der Familienforum Havelhöhe gGmbH.