Heilung unter dem Regenbogen. Mit René Madeleyn im Gespräch

René Madeleyn

Erziehungskunst | Herr Madeleyn, Sie arbeiten als Kinderarzt an der Filderklinik und leiten die dortige Eltern-Kind-Station »Regenbogen«. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf Entwicklungs- und Ernährungstörungen. Welche Erkrankungen treten heute verstärkt auf und wie behandeln Sie diese?

Mehr Allergien, mehr Bewegungsstörungen

René Madeleyn | Ich überschaue jetzt drei Jahrzehnte Entwicklung in der Kinderheilkunde. Als ich anfing zu lernen, hatten etwa zwei Drittel aller Kinder in der Kinder­klinik Infektionskrankheiten. Wir haben natürlich viel häufiger die klassischen Kinderkrankheiten gesehen, die inzwischen selten geworden sind, aber auch mehr Infektionen des zentralen Nervensystems und viel mehr Hepatitis. Gleich geblieben ist die Zahl der Kinder mit Krebserkrankungen, Epilepsien und Hirnschädigungen. Eindeutig häufiger geworden sind Kinder mit allergischen Erkrankungen: An diesen leidet inzwischen jedes vierte Kind.

Mehr als dreißig Prozent aller Kinder im Vorschulalter werden entwicklungsfördernd behandelt, sei es mit Ergotherapie, Logopädie, Krankengymnastik oder heilpädagogischer Frühförderung.

Wir müssen davon ausgehen, dass diese Zunahme mit unseren Lebensbedingungen und insbesondere mit den Lebensbedingungen in den Familien zusammenhängt. In meiner Kindheit war die Straße, in der ich wohnte, voll mit spielenden Kindern. Heute sitzen all diese Kinder bereits im jüngsten Alter vor dem Bildschirm oder spielen mit entwicklungsfeindlichem Spielzeug. – Wir wissen, dass gutes und kreatives Spielen der Eltern mit den Kindern und auch der Kinder untereinander für die Entwicklung wichtiger ist als alle Übprogramme zusammen. Wir schaffen auf unserer Station vorbildliche Situationen, wie den gemeinsamen Tagesbeginn mit Morgenkreis und den Tagesabschluss mit Abendkreis. Die Eltern werden zum Singen angeleitet, zu kreativer Betätigung, zum Aufbau einer gemüthaften Atmosphäre. Wir behandeln die Kinder mit heilpädagogischen Spielen, aber auch der Kunst- und Musiktherapie, der Heileurythmie und äußeren Anwendungen.

Neben der allgemeinen Beratung in Ernährungsfragen im Hinblick auf eine gesunde Ernährung erscheint uns insbesondere die Art, wie gegessen wird, wesentlich. Wir mussten ein Kleinkind wegen einer schweren Essstörung stationär aufnehmen, – es zeigte sich, dass der Vater während der Mahlzeit am Laptop saß und das Verhältnis der Eltern so angespannt war, dass das Kind nicht essen konnte. Ein Kollege hat einmal einen Vortrag gehalten mit dem Titel, »die beste Medizin ist eine heile Welt«. Ein Teil des Konzeptes auf Station Regenbogen besteht darin, für die kranken Kinder eine heile Welt zu schaffen. Wenn diese dann von den Eltern zu Hause auch nur zu einem kleinen Stück nachgeschaffen wird, ist schon viel gewonnen.

Schulmedizin und Anthroposophie – kein Gegensatz

EK | Das anthroposophische Menschenbild fordert eine ganzheitliche Medizin und Therapie. Ist sie nur eine Ergänzung der schulmedizinischen Möglichkeiten oder führt sie konsequenterweise zu einer radikal neuen Behandlungsweise?

RM | Ob die anthroposophische Medizin nur eine Ergänzung der schulmedizinischen Möglichkeiten oder eine radikal andere Behandlungsweise ist, lässt sich nicht allgemein beantworten. Ich betreue eine ganze Reihe von Kindern mit onkologischen Erkrankungen. Hier hat die Schulmedizin in den letzten Jahrzehnten so große Fortschritte gemacht, dass bei der Behandlung der akuten lymphatischen Leukämie mehr als achtzig Prozent der Kinder dauerhaft geheilt werden können.

Die anthroposophische Medizin trägt dazu bei, dass die stark eingreifende Chemotherapie besser vertragen wird, Komplikationen gemildert werden und die Lebensqualität des Kindes verbessert werden kann. Bei der Behandlung eines so häufigen Krankheitsbildes wie der Lungenent­zündung setzen wir bei abwehrschwachen und sehr kleinen Kindern durchaus Antibiotika ein, behandeln jedoch auch Lungenentzündungen mit gutem Erfolg gänzlich ohne Antibiotika, alleine mit den Mitteln der anthropo­sophisch erweiterten Medizin.

Ein anderes Beispiel sind die vielen infektanfälligen Kinder. Meistens kann ihnen mit den Mitteln der Schulmedizin nicht nachhaltig geholfen werden. Hier können wir erstaunliche Verbesserungen mit naturheilkundlich-anthroposophischen Maßnahmen erreichen, allerdings gehört es auch dazu, den Wärmehaushalt des Kindes zu beachten, seine Lebensführung und Ernährung.

Aus meinem Gebiet, der Epilepsiebehandlung, habe ich mehrere erstaunliche Verläufe, wo Kindern mit einer Vielzahl chemischer Mittel, sogenannter Antikonvulsiva nicht geholfen werden konnte, anthroposophisch-homöopathische Medikamente jedoch zu Besserungen bis hin zur Anfallsfreiheit führten. Zum Konzept unserer Kinderstation gehört der weitgehende Verzicht darauf, Fieber künstlich zu senken. Auch die Schulmedizin ist heute grundsätzlich der Ansicht, dass künstliche Fiebersenkung für den Verlauf einer akuten Krankheit in der Regel ungünstig ist. Die Behandlungsgewohnheiten in den deutschen Kinder­kliniken sehen jedoch nach wie vor Fieber senkende Maßnahmen vor. Insgesamt bedeutet die individuelle Vorgehensweise auf unserer Abteilung eine intensivere Beratungsarbeit und eine stärkere Verbindung mit dem Patienten.

Die Mutter hilft heilen

EK | Sie hatten sich damals dafür eingesetzt, dass es an der Filderklinik eine Mutter-Kind-Station gibt, weil dies den Heilungserfolg fördert. Können Sie das bestätigen? Hat sich diese Erfahrung auch bei den Leistungsträgern als sinnvoll erwiesen?

RM | Die anthroposophischen Kinderabteilungen und geburtshilflichen Abteilungen waren die ersten in Deutschland, die in einem Akutkrankenhaus regelmäßig Eltern mit aufgenommen haben. Inzwischen ist das auch an allen anderen Kinderkliniken üblich. Selbstverständlich ist eine gute Stillanleitung im Bereich der Geburtshilfe und Neonatologie nur möglich, wenn die Mutter rund um die Uhr mit aufgenommen wird und an den feinen Regungen des Kindes erkennt, dass es gestillt werden muss. Dass eine vertraute Bezugsperson zur Gesundung des Kindes beiträgt, daran hat inzwischen niemand mehr einen Zweifel. Die Kostenträger honorieren das seit mehreren Jahren, indem sie zumindest im Vorschulalter die Mitaufnahme einer Begleitperson finanzieren. Die Eltern werden bei uns vielfach in therapeutische Maßnahmen, wie  Wickel, Einreibungen, Inhalationen und Bäder eingewiesen. Sie können durch Erfahrungen während des stationären Aufenthaltes viel mit nach Hause nehmen.

Impfen, ja oder nein?

EK | Gesundheit – Krankheit, die Grenzen sind fließend. In der anthroposophischen Medizin gelten Krankheiten als Entwicklungshelfer. Sollten Eltern deshalb auf Impfungen verzichten?

RM | Wir können davon ausgehen, dass es heute mehr Allergien gibt, weil die Kinder in der ersten Lebenszeit zu wenig Antigenkontakt haben, das heißt, sie setzen sich zu wenig mit akuten Infektionskrankheiten auseinander. Vermutlich waren deshalb in der ehemaligen DDR Allergien viel seltener. Die Kinder waren zwar geimpft, durch die Krippenbetreuung haben sie sich jedoch ständig an banalen fieberhaften Infekten angesteckt und deshalb weniger Allergien entwickelt. Natürlich spielt auch innerhalb der anthroposophischen Medizin das Überwinden einer Kinderkrankheit eine Rolle. Hier stellt die Kinderkrankheit eine Auseinandersetzung mit Vererbungskräften dar. Wenn das Kind sie gesund übersteht, erscheint es stärker individualisiert, was sich vielfach in einem Entwicklungsfortschritt zeigt.

Die Frage, ob Eltern auf Impfen verzichten sollen, ist ein heißes Eisen und kann nicht in einem Satz beantwortet werden. Wir sind als anthroposophische Ärzte verpflichtet, nicht öffentlich gegen die offiziellen Impfempfehlungen aufzutreten, das heißt, wir stellen uns nicht als Impfgegner dar. Auf der anderen Seite wollen wir eine freie und individuelle Impfentscheidung. Das macht es im Einzelfall nicht leicht, mit den Eltern einen Weg durch das Dickicht von inzwischen vierzehn bis siebzehn Impfungen zu finden, mit denen sich Eltern auseinandersetzen müssen. So müssen wir über die Krankheitsbilder aufklären, gegen die geimpft wird, über die Folgen der Impfung, auch über die Häufigkeit der Krankheiten, gegen die geimpft wird. Dies braucht Zeit. Daher ist es notwendig, dass sich Eltern mit Hilfe eines guten Impfratgebers selbst informieren

Zum Autor: René Madeleyn ist seit September 1991 leitender Arzt der Kinderabteilung in der Filderklinik mit Schwerpunktambulanz Neuropädiatrie. Davor war er elf Jahre im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke tätig. In dieser Zeit hat er die Rudolf Steiner Schule in Wuppertal als Schularzt mitbetreut und war mehrere Jahre Kindergartenarzt am Waldorfkindergarten in Siegen. Madeleyn hält regelmäßig Vorträge und Kurse an Waldorfschulen und Waldorfkindergärten über medizinisch-pädagogische Grenzfragen, so über die anthroposophische Sinneslehre, Temperamentsbehandlung, Ernährung, Impfungen und den Sinn der Kinderkrankheiten.

Literatur: Wolfgang Goebel und Michaela Glöckler, Kindersprechstunde, Stuttgart 2009

Link: www.filderklinik.de