Was die Kinder im Kindergarten gesund macht

Philipp Gelitz

Ein Kind wird geboren. Das Wunder ist wieder einmal geschehen. Die Eltern betrachten voller Freude, Andacht und Stolz ihr Kind und – es atmet, es hat einen Blutkreislauf und einen Herzschlag, es besitzt funktionsfähige Organe und kann seine Glieder bewegen. Das Kind ist gesund!

Aber der Säugling kann seine Körpertemperatur nicht halten, er kann nichts anderes verdauen als Milch, er würde sich sogar durch ein Salamibrot vergiften, er folgt Reflexen, statt selbstgesteuerte Bewegungen zu vollziehen – später wäre das gar nicht mehr gesund!

In den kommenden Jahren muss das Kind sich alles erst erarbeiten. Dabei helfen Elternhaus und Kindergarten.

Wer die Welt erfährt, lernt ihr zu trauen

Im Waldorfkindergarten wird dieses Ergreifen des Leibes und seiner lebendigen Funktionen durch das Kind von mehreren Seiten her gefördert. Es werden viele natürliche Sinneserfahrungen ermöglicht (siehe hierzu Erziehungskunst 10/2009):

 

  • Der Tastsinn wird  durch Kontakt mit Wolle, Holz, Kastanien, Tannenzapfen, Matsch, Wasser, Sand und Gras geschult.
  • Der Lebenssinn wird gefördert durch Zeiten der Behaglichkeit und Ruhe beim Essen oder bei einer Geschichte und durch den Raum, der von den Kindergärtnern für Äußerungen des Befindens aller Art geschaffen wird. Besonders die seelische Zuwendung bei der Körperpflege oder beim An- und Ausziehen lässt Behaglichkeit aufkommen.
  • Der Eigenbewegungssinn wird geschult durch freilassende und bewegungsreiche Spiele, die ein differenziertes Wahrnehmen der Stellung der eigenen Glieder ermöglichen. Hierzu zählen Hüpfen und Springen, Schaukeln und Rennen, Puppen umziehen, Rühren, Kneten, Bügeln, Eurythmie und Fingerspiele.
  • Der Gleichgewichtssinn bildet sich aus, wenn die Kinder mit Tischen und Stühlen bauen, balancieren, in der Horizon­talen spielen oder Klettern dürfen. Auch wenn bei einem Kreisspiel oder in der Eurythmie auf Zehenspitzen gegangen oder auf einem Bein gehüpft wird, übt das Kind seinen Gleichgewichtssinn.

Neben diesen für die Vorschulzeit essenziellen Sinnes­erfahrungen achten Waldorfkindergärten darauf, un­verfälschte Geschmacks- und Geruchserlebnisse zu ermög- ­lichen, indem sie die Kinder mit ansprechenden und wohl dosierten Farben und Klängen umgeben. Schließlich gehen die Erzieher bei jedem Wetter mit ihnen hinaus und verschaffen ihnen dadurch differenzierte Temperaturerlebnisse.

Dieses Kennenlernen der Welt mit allen Sinnen gehört zum Ergreifen des Leibes und zur Gesunderhaltung. Je feiner, differenzierter und unverfälschter die Sinnes­eindrücke sind, desto mehr Sicherheit entwickelt das Kind in seinem Körper. Es kann dann den Geschehnissen der Welt trauen. – Das ist neben der Liebe der Eltern die leibliche Grund­bedingung für Selbstvertrauen und seelische Entfaltung.

Rhythmische Zeitabläufe fördern die Lebensprozesse

Neben diesen physisch-sinnlichen Aspekten ist es im Kindergarten notwendig, die zeitlichen Abläufe rhythmisch und lebendig zu gestalten, damit sie die Gesundheit des kindlichen Organismus erhalten.

Ein rhythmischer Tageslauf mit einem Wechsel von Auskehr und Einkehr, atmende Tätigkeiten beim Backen, Kochen, Handwerken, Gärtnern und Handarbeiten, fließende Übergänge vom Einen zum Anderen und Wiederholung des Bekannten – all dies fördert die Gesundheit (auch zu Hause). Außerdem gehören zu dieser gesunden Umgebung begeistert arbeitende Erwachsene, Pflegsamkeit gegenüber Gegenständen und das Herstellen von Dingen, die gebraucht werden, unter Mitwirkung der Kinder. Dann nämlich findet im äußeren Raum als Arbeitsprozess statt, was der kindliche Organismus mit seinen Lebenspro­zessen im Inneren erst erlernen muss.

Das Kleinkind lernt nur durch Vorbilder

Und warum sind Vorbild und Nachahmung so wichtig für die Gesundheit der Kinder? Weil Kinder bis zur Schulreife fast ausschließlich durch Vorbild und Nachahmung

lernen. Man kann keinem Kind beibringen zu laufen, zu sprechen oder gedankliche Verknüpfungen herzustellen – es muss dies nachahmend lernen. Genauso wenig kann man einem Kind predigen: »Sei gesund, achte auf Dich, entwickle Deine Sinne und Deine lebendigen Organfunktionen« – das ist vollkommen sinnlos. Es muss dies über die äußere Gestaltung des Raumes, des Gartens und die zeitlichen Abläufe im Kindergarten und zu Hause mit­leben und nachahmen können. Kann es dies, dann bildet sich aus der Nachahmung der Umgebung heraus ein gesunder und geschickter Körper mit kraftvollen Lebensprozessen. Dazu gehört übrigens auch die moralische Umgebung! Gehören hingegen hauptsächlich »unechte« Sinneserfahrungen durch künstliche Materialien, künstliche Klänge, überreizende grelle Farben sowie eine zeitliche Gestaltung voller abrupter Übergänge, ohne Fluss und ohne Wiederholung zur täglichen Grunderfahrung, so gestaltet das Kind seinen Körper aufgrund dieser Erlebnisse. Auch die Ausgestaltung der Hirnstruktur hängt wesentlich von diesen Erfahrungen ab.

Den vollständigen Artikel lesen Sie in der Druckausgabe der Erziehungskunst 07/08 2010.