Im Haus der Temperamente

Ulrich Maiwald

Das Schauspiel bietet den Schülern wie kaum ein anderes Fach die Möglichkeit, das eigene Seelenleben in seiner Vielfalt zu erkunden. Dabei können sie wesentliche Einsichten über sich und ihr Verhältnis zu ihren Mitmenschen gewinnen. Die innere seelische Haltung spiegelt sich in Körperhaltung, Geste und sprachlichem Ausdruck. Durch die Begegnung mit den verschiedenen Rollen erweitert und differenziert sich der persönliche Ausdruck des Schülers.

Die Rückmeldungen des Regisseurs und der Mitspieler geben dem Spieler Aufschluss über seine Selbstwirksamkeit im dramatischen Spiel und seine innere und äußere Haltung wird bestätigt oder korrigiert. Dieser Prozess gibt dem Heranwachsenden Orientierung bei seiner Selbstfindung. Auf der Bühne bleibt Inneres nicht verborgen, alles wird anschaubar und dadurch auch bewältigbar. Der Bühnenraum wird zum Seelenraum. 

Einseitigkeit macht uns unfrei 

In unserem Klassenspielprojekt »Das Haus der Temperamente« von Johann Nepomuk Nestroy bot sich eine besondere Möglichkeit der Selbsterfahrung für die Schüler der 8. Klasse. In dem Stück geht es um vier Familien, die gemeinsam in einem Haus leben und dabei jeweils eine Temperamentslage verkörpern. Die Geschichten der einzelnen Familien sind nahezu identisch, alle haben einen Sohn und eine Tochter im heiratsfähigen Alter und alle sind zunächst ohne den Segen der Väter in die Söhne oder Töchter einer der anderen Familien verliebt. Diese verwickelte Grundsituation nutzt der gewiefte Frisör Schlankerl für seine eigenen Ziele aus. Er verkörpert nicht ein Temperament, sondern versteht es, alle Temperamentslagen zu bedienen. Die Einseitigkeit der Familien macht sie leicht manipulierbar und er treibt sein boshaftes Spiel mit ihnen. Hierin besteht eine Kernaussage des Stückes: Jede Einseitigkeit macht uns unfrei und berechenbar.

Die Schüler konnten sich bei diesem Stück intensiv mit dem körperlichen und seelischen Ausdruck der einzelnen Temperamentslagen beschäftigen und so ihre Kenntnisse aus der entsprechenden Deutschepoche, in der die vier Temperamente und ihr Bezug zu verschiedenen Schreibstilen erarbeitet wurden, praktisch umsetzen. Dabei haben sie ganz selbstverständlich die eigene Temperamentslage mit den verschiedenen Rollenfiguren verglichen. Welches Temperament habe ich selbst oder welches Temperament erkenne ich bei meinen Mitschülern oder meinem Klassenlehrer? Wer passt am besten zu dieser oder jener Rolle? Welche Fähigkeiten muss ein Spieler mitbringen oder dazulernen, um eine bestimmte Rolle spielen zu können? Diese Fragen haben die Schüler bewegt, bevor sie zu einer endgültigen Rollenentscheidung kamen. 

Wahl der Rollen 

Die meisten Rollen in diesem Stück wurden von den Schülern selbst ausgewählt. Dabei sollten sie zunächst drei Wunschrollen in der Abstufung von »unbedingt« über »gerne« bis »spiele ich auch« aufschreiben. Dieser Schritt ist pädagogisch wichtig, weil er den Schüler dazu ermutigt, einerseits eine Entscheidung für eine Rolle zu treffen, andererseits von vornherein einer zu starken Fixierung auf eine bestimmte Figur zu entraten.

Interessant bei der Rollenwahl war, dass einige Schüler Rollen wählten, die ihrer eigenen Temperamentslage entsprachen und damit also eine gewisse Verstärkung ihrer eigenen Charakterzüge forcierten. Andere Schüler hingegen suchten sich eine Temperamentslage, die ihnen eher fern stand und stellten sich so die Aufgabe, das andere Temperament zu erforschen und ihre eigene Ausdrucksfähigkeit zu erweitern. 

Wie trauert ein Choleriker? 

In der praktischen Arbeit versuchten wir nun, die Besonderheiten der einzelnen Temperamente zu charakterisieren und durch eine gezielte Körperarbeit zum Ausdruck zu bringen. Wie ist die Körperhaltung eines Cholerikers? Wie geht ein Sanguiniker? Welche Dynamik in der Bewegung hat ein Phlegmatiker? Welche Gestik und Mimik zeichnet einen Melancholiker aus? Wie spiegeln sich die vier Temperamente in ihrer spezifischen Sprechweise, in Sprechtempo, Sprechrhythmus, Stimmmodulation und Artikulation? Auch die Frage nach der seelischen Äußerung von Grundgefühlen wie Freude, Zorn, Trauer, Sehnsucht, Liebe und Eifersucht stellte sich bei der Verkörperung der Rollen. Wie drückt sich bei einem Melancholiker Wut aus? Wie trauert ein Choleriker? Hier lassen sich durch improvisatorische Übungen, bei denen es um die charakteristische Darstellung von Tieren und ihren Körperschwerpunkten geht, hilfreiche Erfahrungen zur Gestaltung der Rollen machen.

In dieser Beschäftigung lernten die Schüler sowohl das Typische der Temperamentslagen kennen als auch ihre Differenzierung in den verschiedenen Spielsituationen und Handlungsumständen. Es wurde der Blick für Wesentliches geschärft und für die Vielfältigkeit der Erscheinungsformen der Temperamente geweitet. Dadurch gelangten die Schüler über die unmittelbare und praktische Auseinandersetzung von einer zunächst plakativen zu einer zunehmend differenzierten Vorstellung von den Temperamenten und deren Verkörperung auf der Bühne. Wesentlich war dabei, dass es nicht bei der Vorstellung von den Temperamenten blieb, sondern dass diese eine seelisch-leibliche Erfahrung wurden.

Dass die Schüler durch die intensive künstlerische Beschäftigung mit den vier Temperamenten zu Fragen angeregt wurden, welches Temperament wohl bei ihnen selbst die größte Dominanz hätte, ist leicht nachvollziehbar. Dass aber auch die Zuschauer sich durch das Stück angeregt fühlten, über ihr eigenes temperamentbedingtes Verhalten in der Familie oder Partnerschaft ins Gespräch zu kommen, wurde erst durch die Rückmeldungen der Gäste deutlich und war überraschend und erfreulich zugleich. Offensichtlich haben die Temperamente viel mit uns zu tun und lassen uns nicht unberührt, wenn wir sie in Reinform vor das Auge gestellt bekommen. 

Verkörperung der Temperamente wird zur Katharsis 

Als Fazit der Arbeit an dem Stück lassen sich zwei Tendenzen wahrnehmen. Die Schüler, die ihre eigene Temperamentslage in der Rolle suchten und wiederfanden, arbeiteten sich in gewisser Hinsicht an ihr ab und erfuhren durch das bis ins Extrem führende Ausleben zunächst eine Art Erschöpfung oder ein inneres Ermüden und schließlich als Reaktion darauf einen Ausgleich, eine Form der Harmonisierung. So konnte der cholerische Darsteller die physische Anstrengung bis in die Stimme hinein erleben und aus dieser Erfahrung heraus die Notwendigkeit der Mäßigung und Differenzierung im Ausdruck erkennen. Oder die Schwermut und Tiefsinnigkeit des Melancholikers, der durch ständiges Zweifeln in seiner Dynamik gebremst wird. Durch die Einseitigkeit der Darstellung und das damit verbundene extreme Ausleben der eigenen Gemütslage fand nicht nur eine Grenz- und Selbsterfahrung, sondern auch eine Art Ausgleich statt.

Bei den Schülern, die ein ihnen fremdes Temperament wählten, fand ein in der Tendenz entgegengesetzter Prozess statt. Sie erweiterten ihren Horizont und lernten neue Möglichkeiten des Ausdrucks und des Erlebens kennen. Sie entdeckten dabei neue Seiten an sich selbst und der Rolle. Auch hier fand eine Erweiterung der Grenzen statt.

Für beide Gruppen stellte sich die Aufgabe, die gewonnene Erfahrung künstlerisch zu verarbeiten und für das Publikum anschaubar zu gestalten. Die subjektive Erfahrung wurde verobjektiviert.

Insgesamt hat sich für alle an dem Stück Beteiligten durch die Mittel des Spiels und die Freude am schauspielerischen Ausdruck ein großes Feld der Selbst- und Welterfahrung eröffnet. Die Schüler haben unterschiedliche Perspektiven eingenommen und dadurch ihren Erlebnis- und Erfahrungshorizont erweitert. Ist das nicht letztlich das, was wir jedem Heranwachsenden wünschen und mit der theater­pädagogischen Arbeit an dem Achtklassspiel erreichen wollen? 

Zum Autor: Ulrich Maiwald ist Sprech- und Theaterpädagoge an der Freien Waldorfschule Haan-Gruiten und Dozent für Sprech- und Theaterpädagogik an der Alanus-Hochschule Alfter/Bonn