Warum Rechtsanwälte und Frisöre sich für die Temperamente interessieren

Helmut Eller

Im Gespräch mit Helmut Eller 

Erziehungskunst | Herr Eller, warum meinen Friseusen und Friseure in Japan, dass ihnen die Temperamente beruflich weiterhelfen?

Helmut Eller | Die Einladung, vor einer Gruppe von etwa 60 jungen Friseuren und Friseusen in Tokio über die Temperamente zu sprechen, verdankte ich Eltern der im Werden begriffenen Waldorfschule im Westen der Stadt. Diesen war in meinen Seminaren über die Grundlagen der Waldorfpädagogik wohl klar geworden, dass diese Kenntnisse nicht nur in der Schule und häuslichen Erziehung, sondern auch im beruflichen Leben wichtig sein können.

Die Friseure und Friseusen, lauter junge Leute, waren jedenfalls begeistert, als sie erkannten, dass das Temperament des Sanguinikers sich für ihren Beruf besonders eignet. Gilt es doch, mit einem Kunden, der vor einem im Stuhl sitzt, über das zu reden, was ihn interessiert. Da ist schnelles Interesse angesagt! Schon nach kurzer Zeit kommt ein neuer, will auch plaudern, aber über ganz andere Dinge. Sich rasch umstellen zu können, sich für kurze Zeit für alles Mögliche zu interessieren und dabei höflich, freundlich zu sein, auch wenn einem selbst vielleicht nicht danach ist: Das sind Eigenschaften, die das sanguinische Temperament mitbringt.

Die Haarkünstler empfanden es als eine große Hilfe zu erfahren, wie sie sich selbst, ihre Mitarbeiter und Kunden besser verstehen und auf ihre Eigenarten eingehen können, wenn sie ihr Temperament kennen.

EK | Ist das nicht ein bisschen viel Aufwand für eine so schlichte Dienstleistung wie das Haare schneiden?

HE | Es zeigt eine Möglichkeit, die Arbeit mit Menschen zu verbessern. Sie lässt sich auch mit Erfolg auf die Arbeit von Richtern und Rechtsanwälten anwenden. Bei der Vereinigung deutscher Mediatoren in Hamburg habe ich einen Vortrag gehalten. Dieser erste Vortrag bei Kaffee und Kuchen wurde zunächst amüsiert aufgenommen. Doch die Mediatoren erkannten schnell, dass sich mit Hilfe der Temperamente Konflikte besser verstehen und leichter lösen lassen.

Es folgte ein zweiter Vortrag, vor noch mehr Teilnehmern auf der Generalversammlung der Mediatoren. Die Anwesenden hörten gespannt zu. Sie konnten mit diesen Erkenntnissen und Methoden unmittelbar etwas anfangen.

Mir wurde im Nachhinein davon berichtet, dass die Mediatoren immer wieder »geübt« hätten, den anderen und sich selbst nach seinen auffallenden Temperamentsanlagen zu bestimmen. Dabei wurde anscheinend viel gelacht.

Inzwischen arbeiten die Mediatoren mit den Temperamenten, ohne diese »Lehre« – als Schablone zu betrachten. Denn jeder Mensch trägt alle vier Temperamente in sich. Einige auffallende Eigenschaften kann man relativ schnell finden, aber es dauert länger, unter Umständen sehr lange, bis man auch die verborgenen Seiten entdeckt. Sie gehören aber auch dazu.

Die Zusammenarbeit mit den Rechtsanwälten setzte sich fort und stieß auf immer regeres Interesse, so dass bei meinen Vorträgen auch Richter und Mandanten einge­laden waren und die Zuhörer zum Teil stehen mussten. Man vernahm mit Staunen, dass in den Waldorfschulen auf die Temperamente der Kinder geachtet wird und dass Rudolf Steiner den Lehrern Wege gezeigt hat, wie sich diese im Unterricht nutzen: Die Kinder werden den Temperamenten entsprechend zusammengesetzt. Durch eine vierfach gefärbte künstlerische Erzählweise können die Lehrer dazu beitragen, dass die Kinder lernen, ihr Temperament zu beherrschen, statt von ihrem Temperament beherrscht zu werden. In gewisser Weise waren meine Vorträge eine Einführung in die Waldorfpädagogik.

EK | Irgendwie landeten Sie dann bei den Biochemikern: untersuchen die jetzt die Temperamente der Bakterien?

HE | Möglicherweise. Aber erst noch etwas zu den Hausfrauen! Nach den Vorträgen in den Kanzleien brachte eine ältere Dame ihr soeben entdecktes Interesse an diesem Thema zum Ausdruck und lud mich zu einem Vortrag in ihrem »Hausfrauen-Bund« ein. Anfangs klapperten noch die Kaffeetassen, doch langsam wurde es ganz still. Die Damen schienen zu bemerken, dass sie die Menschen, mit denen sie zu tun haben, auf einmal besser verstehen. Da wird manche erkannt haben, warum ihre Lebenspartner und sie selbst an ihrem jeweiligen Temperament kaum etwas verändern konnten, und dass man lernen kann, mit den einzelnen Eigenschaften geschickter umzugehen. Ratschläge, die den Umgang mit dem cholerischen Temperament betreffen, wurden wohl bei allen Vorträgen und Seminaren als das Interessanteste empfunden. Es hilft zu wissen, dass so mancher zornig gewordene Mensch, der Kraftausdrücke in die Gegend schleudert, vielleicht sogar etwas zerstört, und der nachher kein Bewusstsein davon hat, ein Opfer seines cholerischen Temperaments geworden ist. Auch dieser Vortrag zog weitere nach sich.

Schließlich landete ich bei Bio-Chemikern: Der Vorsitzende dieses Vereins hörte meinen Vortrag im Krankenhaus Berlin-Havelhöhe, als er dort Patient war, und lud mich ein. Die praktische Anwendbarkeit des Themas habe ihn überzeugt, meinte er. Ihm seien ständig neue Lichter aufgegangen, und das wünsche er auch all den Menschen seiner Vereinigung. 

EK | Ihr »Einsatzgebiet« sind klassischerweise Waldorflehrer-, Kindergarten- oder heilpädagogische Seminare im In- und Ausland. Doch werden sie auch von Pflegefachschulen, Krankenhäusern und therapeutischen Einrichtungen eingeladen. Wo liegen deren Fragen?

HE | In den erwähnten Einrichtungen hat man die Erfahrung gemacht, dass die jungen Menschen, die mit Betreuten oder Kranken zu tun haben, dringend Menschen­kenntnis benötigen.  Lernen sie die Temperamente ver­­stehen, so lernen sie das Allgemein-Menschliche kennen. Jeder Mensch aber färbt seine Temperamente mit seiner individuellen Persönlichkeit ein, so dass nicht ein einziger Mensch wie der andere ist. Die Temperamente kann man verhältnismäßig schnell verstehen, man kann sich schon in wenigen Kursstunden die wesentlichen Grundlagen erarbeiten und dann bedarf es der steten weiteren Übung. Im Krankenhaus Havelhöhe in Berlin beginnt die Krankenpfleger-Ausbildung mit meinem Vortrag, und dann arbeitet eine Therapeutin mit den Auszubildenden, wie man praktisch damit am Krankenbett umgeht. Nach meinem Vortrag im Hamburger Carus-Institut wurde auch dort die Therapeuten-Fortbildung ergänzt. 

EK | Die Temperamentenlehre Rudolf Steiners wird von den Erziehungswissenschaften als obsolet erachtet. Warum ist sie es Ihrer Ansicht nach nicht?

HE | Man muss sich die Mühe machen und die Temperamente »sehen« lernen. Wenn ich irgendwo über die Temperamente spreche, erlebe ich, dass die Menschen anfangen, die entsprechenden Eigenschaften an sich selbst, ihren Kindern oder Mitmenschen wahrzunehmen. Es gehen ihnen die Augen auf. Das Thema ist in Misskredit geraten, da man sich gegen Schablonen sträubt – und das mit Recht. Man spricht zum Beispiel von einem Choleriker. Damit kann nur jemand gemeint sein, der verhältnismäßig viel von diesem Temperament hat. Alle anderen Temperamente sind ja auch vorhanden und müssen entdeckt werden. Es gibt niemanden, der in jeder Situation gleich reagiert. Wenn man im Alltag vom Choleriker oder Phlegmatiker spricht, dann blendet man die Vielschichtigkeit des Themas aus. 

EK | Sie hatten 25 Jahre lang einen Lehrauftrag an der Universität Hamburg zur Waldorfpädagogik. Wie reagierten die Studenten und Professoren auf die Temperamente?

HE | Das Thema war in jedem der 50 Semester ein beliebtes Referatsthema. Es wurde meistens von vier Teilnehmern sehr lebendig vorgetragen und oftmals durch ein Stegreifspiel, Demonstration oder Zeichnungen sichtbar gemacht. Es fand große Anerkennung und wurde nicht ein einziges Mal in Frage gestellt.

Als ich mein Konzept gegen Ende meiner Tätigkeit in einer Konferenz verschiedenen Professoren vorstellte, sprach ich auch über die Temperamente. Man hörte interessiert zu, kannte wohl die Beurteilung ehemaliger Studenten aus meinen Kursen und äußerte sich wohlwollend. 

EK | Wird die »Temperamentenlehre» an den Waldorfschulen überhaupt angewandt?

HE | Das hoffe ich sehr! Ich durfte dieses Thema jahrelang in mehreren unserer Lehrer-Seminare vortragen und erlebte durchweg großes Interesse, spürte auch immer den Willen und die Begeisterung, die Dinge in die Tat umzusetzen. Mit besonderer Freude habe ich erfahren, dass einige Kollegen in der Christophorus-Schule in Hamburg mit ihren seelenpflege-bedürftigen Kindern Temperaments-Erziehung betreiben! Von den vielen Möglichkeiten, auf die Temperamente einzugehen, finde ich zwei besonders wirksam und einfach zu handhaben. Zum einen das Setzen der Kinder im Unterricht, das sich auf die Disziplin der Klasse auswirkt; zum anderen die vielfältigen Arten, Geschichten zu erzählen oder Dinge zu beschreiben, die jedes Temperament bei den Kindern auf seine Kosten kommen lässt. 

Literatur:

Helmut Eller: Die vier Temperamente. Anregungen für die Pädagogik, Stuttgart 2007
Peter Lipps: Temperamente und Pädagogik. Eine Darstellung für den Unterricht an der Waldorfschule, Stuttgart 1998