Pionierarbeit im Möbelhaus

Gunhild Daecke

Die damalige Pionierklasse der ersten Interkulturellen Waldorf­schule in Mannheim weiht mit einer Sure einen weiteren Gebäudeabschnitt ein. Es war genau zwei Jahre nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center, als die Schule am 11. September 2003 ihre Arbeit in einem alten Möbelgeschäft aufnahm: 36 Kinder aus ganz unterschiedlichen Kulturen hatten ihren ersten Schultag an einer Schule, die zum Symbol der Innovativkraft der Waldorfschulen geworden ist. Diese Schüler stehen heute selbstbewusst auf dem Parkett und präsentieren ihre Schule zu jedem Anlass. Kulturelle Vielfalt ist für sie etwas Selbstverständliches geworden.

Die Freie Interkulturelle Waldorfschule Mannheim hat sich in einem multikulturellen Stadtteil Mannheims angesiedelt, weil sie Lebens- und Begegnungsräume zwischen Kindern unterschiedlicher Herkunft, Nationalität und Religion schaffen wollte. Das ist ihr gelungen. In den neun Jahren seit ihrer Gründung ist die Zahl der Herkunftsnationen der Schüler auf 31 angestiegen. Über die Hälfte der Schüler stammt aus Einwandererfamilien. Die Interkulturalität ist überall zu spüren, ob im Unterricht, auf dem Schulhof oder beim Mittagessen. Von Anfang an verlangte der Standort dem Kollegium viel Flexibilität und Kreativität ab. Das Schulgebäude befindet sich versteckt und eingezwängt zwischen einem Discounter und einem Großbäcker. Es hat weder einen Saal noch eine Turnhalle zu bieten. Aber das Kollegium hat gelernt, mit den Gegebenheiten zurechtzukommen und sich als Bildungseinrichtung in den Stadtteil zu integrieren. So findet eine öffentliche Monatsfeier im Rahmen des 60jährigen Landesjubiläums Baden-Württembergs auf einer Freilichtbühne in einem angrenzenden Park statt, oder der Saal einer benachbarten evangelischen Kirchengemeinde steht der Schule für Veranstaltungen zur Verfügung. Mit großer Begeisterung übt ein neu gegründeter Chor, der aus Schülern der 4.-11. Klasse besteht, orientalische Gesänge für eine öffentliche Monatsfeier, die Oberstufenklassen studieren einen Beitrag aus dem Koran für ihren Auftritt auf dem Katholikentag in Mannheim ein – ein Symbol für ein friedliches Miteinander und Völkerverständigung.

Das Konzept der Freien Interkulturellen Waldorfschule Mannheim ist viel diskutiert worden und dient als Orientierung für andere interkulturelle Waldorfinitiativen. An der Pionierschule wird unermüdlich an der Weiterentwicklung der pädagogischen Konzepte gearbeitet, um der kulturellen und sozialen Vielfalt der Schülerschaft gerecht zu werden und allen gleiche Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten. Immer mehr Menschen müssen oder wollen ihre Heimat verlassen. Dass unterschiedliche Kulturen und Sprachen aufeinander treffen, wird zum Normalfall. Das macht es nicht eben leichter, Deutsch zu lernen. Mit dem neu entwickelten Konzept »Deutsch als Vertiefungssprache« sollen die Schüler zu bewusstem und differenziertem Sprachhandeln ermutigt werden; sie sollen Freude am selbstständigen Umgang mit der deutschen Sprache haben, sprachliches Selbstvertrauen entwickeln und Verantwortung im Umgang mit der deutschen Sprache übernehmen. Mit diesem Unterrichtsfach, das ab dem kommenden Schuljahr wahlweise als Alternative zu Französisch als zweite Fremdsprache angeboten werden soll, begegnet die Schule der Notwendigkeit einer gezielten Sprachförderung.

Zur pädagogischen Arbeit gehört es auch, das Mittel- und Oberstufenkonzept an die Bedürfnisse der Schüler anzupassen. Duales Lernen, das kognitives und praktisches Lernen eng miteinander verzahnt, ist hierbei zentral. Der neu gegründete Schülerkiosk, in dem die 7. Klasse Kulinarisches anbietet, geht auf den Unterricht in Ernährungslehre zurück. Der Kiosk stellt die Schüler vor rechnerische und betriebswirtschaftliche Herausforderungen, die Fähigkeit, mit sich selbst und anderen umzugehen, wird verbessert.

Nie ruht die Frage, woher das Geld für die Freie Interkulturelle Waldorfschule kommen soll. Viele Eltern, die sozial schwächer gestellt sind, können keine Beiträge entrichten. Bekanntlich werden freie Schulen von dem jeweiligen Bundesland bezuschusst. Die jährlich pro Schüler bewilligten Zuschüsse werden unabhängig davon gewährt, ob es sich um Ganztagsschulen handelt und wie hoch der Betreuungsaufwand ist. Die Bezuschussung durch das Land Baden-Württemberg liegt bundesweit an vorletzter Stelle. Durch den Regierungswechsel wurde eine geringe Anhebung der Zuschüsse von freien Schulen bewilligt, die jedoch nicht ausreichen. Vielfältige Ideen und Unterstützung aus der Schulbewegung sind erwünscht.