Inklusion und der neue Begriff der Behinderung

Johanna Keller

Was heißt Behinderung?

Unter Inklusion wird im Allgemeinen die umfassende und uneingeschränkte Teilhabe jedes Einzelnen am gesellschaftlichen Leben verstanden. Ziel ist die aktive Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft. Das schließt ausdrücklich das Recht auf Bildung ein. Aus Art. 3 BRK folgt, dass Inklusion von den Besonderheiten und individuellen Bedürfnissen eines jeden Menschen ausgeht. Die Konvention setzt damit unterschiedlichen Förderbedarf voraus. Sie macht weitreichende gesellschafts- und sozialpolitische Veränderungen notwendig. Insbesondere Pädagogen und Bildungswissenschaftler müssen umdenken und die Schulformen und Bildungsgänge anders gestalten.

Der Begriff der Behinderung, wie er in Art. 1 BRK gefasst ist, ist der Maßstab für die Rechtsordnungen der aktuell 154 Unterzeichnerstaaten:

»Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.«

Die BRK drückt eine Haltung dem anderen Menschen gegenüber aus, die wertschätzend ist und ihn so annimmt, wie er ist. Nach der zitierten Formulierung ist ein Mensch aufgrund seines Wechselverhältnisses mit seiner Umwelt behindert, nicht allein aufgrund einer Sinnesbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung in körperlicher, seelischer oder geistiger Hinsicht. Dadurch, dass er sich durch Beeinträchtigungen Barrieren gegenübersieht, die ihn langfristig daran hindern, wie ein nicht beeinträchtigter Mensch am allgemeinen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, wird er erst zu einem Menschen mit Behinderung (Partizipationsmodell).

Dieser Behindertenbegriff ist vielen Menschen unserer Gesellschaft noch nicht vertraut. Das bestätigen Erfahrungen, die ich in einer Reihe von Vorlesungen und Seminaren gemacht habe. Die Konvention hat einen Rechtsbegriff geschaffen, der noch nicht in den Empfindungen aller Menschen lebt. Er weist darauf hin, dass wir anderen Menschen ohne Bewertung gegenübertreten können.

Behinderung im Sozialgesetzbuch

Dieser Begriff von Behinderung entspricht dem Paragraphen 2 im neunten Band des Sozialgesetzbuchs, allerdings wird er dort mit dem Lebensalter verknüpft:

»Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.«

Wer in seiner Entwicklung zwar nicht seinem Lebensalter entspricht, aber uneingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, ist nicht als behindert im sozialrechtlichen Sinne anzusehen. Gleichzeitig ist auch die Beschränkung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben keine Behinderung, wenn diese auf anderen Gründen wie Armut beruht.

Behinderung aus der Sicht der Weltgesundheitsorganisation

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelte im Jahre 1980 ein Klassifikationsschema von Krankheiten und Behinderung (ICIDH), das wegen der zu stark negativen und medizinischen Ausrichtung im Jahr 2001 erweitert wurde. Sie veröffentlichte unter dem Namen ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health; Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit und Behinderung) eine Klassifikation, die weltweit als Leitbild für den Krankheits- und Behinderungsbegriff fungiert. Die ICF orientiert sich an dem Leitbild eines »gesunden« Menschen und nicht mehr wie 1980 an dem Ausmaß der Schädigungen.

Der Gesetzgeber orientiert sich gegenwärtig nach eigenen Vorgaben an der ICF, weil sie ein international anerkannter Maßstab ist.

Mit dem im deutschen Recht heute geltenden zweigliedrigen Behinderungsbegriff ändert sich auch die Sicht auf die erforderlichen Maßnahmen. Während auf der Grundlage des früheren Behinderungsbegriffes für die Frage der Behinderung und der zu kompensierenden Nachteile allein auf die Art und den Grad der körperlichen, geistigen oder seelischen Abweichung geblickt wurde, geht es nunmehr darum, mit welchen Maßnahmen möglichst wirksam die soziale Beeinträchtigung beseitigt werden kann.

Kein Kind darf ausgeschlossen werden – gleich an welcher Schule Artikel 24 der Konvention verlangt ein Umdenken der bisher gewohnten Erziehung von Kindern. Die Verpflichtungen der Vertragsstaaten beziehen sich auf das gesamte »Bildungssystem«. Sie umfassen nicht nur Schulen, sondern alle Einrichtungen, die einen Bildungsauftrag haben – vom Kindergarten bis zur postuniversitären Weiterbildung.

Dem Wortlaut nach unterscheidet Artikel 24 nicht zwischen öffentlichen und privaten Schulen (Schulen in freier Trägerschaft), sondern er bezieht sich grundsätzlich auf das gesamte Bildungssystem. Bei der Beurteilung, ob die Staaten ihre Verpflichtungen aus dem Abkommen erfüllen, muss also das gesamte schulische Bildungssystem einschließlich der Schulen in freier Trägerschaft einbezogen werden.

Schulen in freier Trägerschaft haben unabhängig hiervon gemäß Artikel 7 Absatz 4 des Grundgesetzes auch weiterhin das Recht, ihre Vertragspartner frei auszuwählen. Sie sind allerdings als Teil des Bildungssystems an die staatliche Ausrichtung, wenn sie denn umgesetzt sein sollte, gebunden. Gegenwärtig ist jedenfalls das Diskriminierungsverbot zu beachten, so dass kein Kind wegen einer Behinderung vom Schulbesuch ausgeschlossen werden darf.

Wie inkludiert wird, bleibt offen

Nachdem die Behindertenrechtskonvention in Deutschland Rechtskraft erlangt hat, hat die ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) erörtert, wie die Inklusion erreicht werden kann.

Mit Beschluss vom 18. November 2010 wurde daraufhin das Positionspapier »Pädagogische und rechtliche Aspekte der Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention – VN-BRK) in der schulischen Bildung« verabschiedet.

In diesem Beschluss stellt die KMK fest, dass alle Schulgesetze der Länder das gemeinsame Lernen von behinderten und nichtbehinderten Schülerinnen und Schülern vorsehen. Auf welche Weise gemeinsames Lernen zu realisieren ist, bleibt dabei offen.

Unter der Berücksichtigung dieses Positionspapiers hat die KMK mit ihrer Empfehlung »Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen« vom 20. Oktober 2011 eine weitere Grundlage zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an Bildung für die Gesetzgebung der Länder geschaffen. Die Empfehlung stellt die Rahmenbedingungen einer zunehmend inklusiven pädagogischen Praxis in den allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen dar, die sich mittlerweile in den Ländergesetzen wiederfinden.

Zur Autorin: Johanna Keller ist Rechtsanwältin und Mitglied des Arbeitskreises Inklusion.

Eine detaillierte Übersicht über die Regelungen in den einzelnen Bundesländern können Sie hier herunterladen.