Kraftgewinn. Auf der Suche nach Alternativen für Schulverweigerer

Friedrich Genz

Auf Hof Althing in Aasbüttel zwischen Itzehoe und Rendsburg trifft man Hühner, Hunde, Pferde, Schweine, Puten und Enten. Es gibt ein wenig Nebenerwerbslandwirtschaft, Imkerei und zwei Forellenteiche – und viele Kinder und Jugendliche, denn der Zweck des Ganzen ist der Betrieb einer Wohn- und Lebensgemeinschaft, wie sie vom Staat nach dem Sozialgesetzbuch gefördert wird (SGB VIII §§ 34/35a und SGB XII).

Hanno Bräuer, der Leiter der Einrichtung stand – und steht – vor der Herausforderung, neue Formen der Beschulung zu erproben, denn wie in anderen Heimeinrichtungen gibt es auch auf Hof Althing viele Schulverweigerer, die einen langen Weg des Versagens und der allmählichen Ausgrenzung hinter sich haben und am Regelschulbetrieb nicht mehr teilnehmen wollen. Anders als in den meisten stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe gibt es aber auf Hof Althing keinen Schichtdienst. Alle Erzieher leben auf dem Hof oder in einem der wenigen Häuser des Dorfes. Der Hof ist nicht »Dienststelle«, sondern Lebensort, Lebensmittelpunkt der Erzieher und der Kinder. Die Pädagogen kommen also nicht zum »Dienst«, und die Kinder sind nicht »die Arbeit«. Man lebt und arbeitet zusammen.

Friedrich Genz | Warum nimmt die Zahl der schulmüden und schulverweigernden Kinder zu?

Hanno Bräuer | Die Kinder können meistens nur sagen oder darleben, dass sie nicht mehr wollen. Viele der eigentlich seelenpflegebedürftigen Kinder und Jugendlichen erleben heute, dass sie Teil eines sehr komplexen Schulsystems geworden sind und dass sie vielen Lernprozessen nur unzulänglich folgen können. Und sie ahnen, dass man sie, trotz anders lautender Lippenbekenntnisse, als störend empfindet.

FG | Warum wird auf Hof Althing eine besondere Form der Beschulung erprobt?

HB | In erster Linie lag es daran, dass ich für unsere Probleme keine Anlaufstellen, keine Ansprechpartner mehr hatte. Und die Schulen, mit denen ich im Gespräch war, haben mir oft vermittelt, dass sie noch keine Lösungen haben. Ein Teil der Lehrer ist letztlich ratlos und überfordert. Von Anfang an hatten wir Jugendliche, von denen wir wussten, dass sie das Potenzial hatten, den Hauptschulabschluss und den Schritt in eine Berufsausbildung zu schaffen, von denen wir aber auch wussten, dass sie dies im Regelschulsystem nicht schaffen werden. Erst durch die Erfahrung der Jugendlichen, ich kann die Pferde pflegen, ich kann Fische züchten oder in der Tierversorgung sinnvoll helfen, ergeben sich lebensnahe Erfolgserlebnisse, und es entsteht eine zarte Grundlage für erneute Anstrengungs- und Lernbereitschaft.

FG | Wie verläuft der Schulalltag auf dem Hof?

HB | Der Tag beginnt immer mit einer Morgenbesprechung aller Hofbewohner, in deren Verlauf festgelegt wird, was getan werden muss. Im Gartenbau und in der Landwirtschaft ist das ja auch alles wetterabhängig, wir müssen manchmal kurzfristig planen. Aber das ist nicht nur eine Arbeitseinteilung, das ist ein Ritual, in dem jeder Einzelne seine Arbeit als Teil des Ganzen erleben kann. Und dann geht es in die verschiedenen Werkbereiche. Da gibt es die Landwirtschaft, den Gartenbau, daneben die Imkerei, das Federvieh, die Pferde, die Schweine und die Fischzucht. Und wir haben unsere Werkstatt, die die Hausmeisterei abdeckt, aber auch mit Möbelbau, Reparaturen und Restaurationsaufträgen befasst ist. Ein weiterer Bereich ist die Hauswirtschaft, die für die gesamte Versorgung des Hofes und der Mitarbeiter – das sind insgesamt etwa 30 Personen – zuständig ist. Putzen, Kochen, Waschen, Verarbeitung der Erträge aus Landwirtschaft, Gartenanbau, Imkerei und Fischzucht – all das gehört dazu.

FG | Euer Ansatz basiert darauf, dass Ihr die Kinder in die natürlichen Arbeits- und Lebensprozesse des Hofes einbindet, um von dort aus wieder theoretische Lernprozesse in Gang zu bringen.

HB | Ja, aber das ist kein raffinierter didaktischer Trick. Die Kinder erleben den Sinn der Arbeit und erkennen, dass dafür auch gelernt werden muss. Wer Fische züchten oder Bienen halten will, muss sich kundig machen. Da muss irgendwann auch gelernt werden. Das wird akzeptiert.

FG | Habt Ihr so etwas wie einen Lehr- oder Ausbildungsplan entwickelt?

HB | Einen? Ganz viele – immer wieder überprüft, verändert und weiter entwickelt. Zu Beginn nächtelange Diskussionen. Wir haben auch mal die Lehr- und Stoffpläne zweier Waldorfschulen studiert, aber bald gemerkt, dass man so etwas nicht auf unsere Situation übertragen kann. Das gilt auch für meine eigenen Erfahrungen als Waldorfschüler. Inzwischen haben wir so etwas wie ein Grundmuster gefunden, das aber immer wieder an die sich wandelnde Bedarfslage der Kinder angepasst werden muss.

FG | Wie viele haben es danach geschafft, wieder in eine Regelbeschulung oder Ausbildung zurückzukehren?

HB | Von den 41 Kindern und Jugendlichen, die hier sind oder waren, haben 33 die Hofschule besucht und 27 haben den Rückweg in eine Regelbeschulung, Ausbildung oder weiterbildende Maßnahme gefunden. Aber manchmal scheitert der angestrebte Übergang daran, dass es keine Schule gibt, die den von uns eingeleiteten Prozess aufgreifen kann.

FG | Wird Euer Vorgehen von der Schulaufsicht geduldet?

HB | Ja. Wir sind keine offiziell anerkannte Schule, das haben wir bisher auch noch nicht angestrebt. Unsere Schüler sind alle an Regelschulen gemeldet.

Das geht nicht anders. Aber in enger Absprache mit den Schulleitern oder dem Schulrat ermöglichen wir gemeinsam die Teilnahme am Althinger Schulbetrieb. Es sind immer Einzelfallentscheidungen. Unser Vorgehen wird nicht nur geduldet, sondern oft auch geschätzt.

FG | Was wünschst Du Dir für die Zukunft?

HB | Viele Lehrer wissen gar nicht mehr, wie hilfreich es für die Erziehung sein kann, mit Kindern mal eine Zeit lang praktisch gearbeitet zu haben. Es wäre schön, wenn Lehrer ihr Verständnis von Schule dahingehend erweiterten.

Eine Vision: Der Lehrer X wird nach Aasbüttel abgeordnet – für eine schulergänzende Arbeit, zunächst begrenzt auf zwei Jahre. Er unterstützt uns bei den gedanklichen Unterrichten, bei den Prüfungsvorbereitungen für den Hauptschulabschluss und arbeitet hier aber auch im Garten oder woanders mit.

FG | Versteht Ihr Euch als Waldorfschule?

HB | Unsere Pädagogik hier auf dem Hof Althing basiert auf der Menschenkunde Rudolf Steiners. Insofern fühlen wir uns der Waldorfschulpädagogik verbunden. Aber »Lebenslernort« passt wohl am besten.

Zum Autor: Friedrich Genz war zehn Jahre Lehrer an der Rudolf Steiner Schule Dortmund und ist seit 1993 am Rudolf Steiner Berufskolleg in Dortmund tätig.