Am Fuß des Kaukasus

Merle Boldler

Heute leben hier circa 70 Menschen jeden Alters. Sie bilden zusammen mit einigen Betreuern eine große Familie und sorgen füreinander. Sie werden bei Haushalts-, Garten-, Bau- und landwirtschaftlichen Arbeiten eingesetzt, soweit das möglich ist. Auch Theater, Gesang und Klavierspiel, Vorlesen, Malen, Handarbeit und Töpferei werden gepflegt. Außerdem gibt es Sprachunterricht in Englisch, zeitweise auch in Deutsch, sowie Computerunterricht, an dem auch Interessenten aus dem Dorf teilnehmen können.

Meine Einsatzstelle liegt im Nordosten des Landes, am Fuß des Großen Kaukasus, nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt von der russischen Grenze und inmitten unzähliger Weinfelder. Das angrenzende Dorf Gremi ist für seine auf einem kleinen Berg gelegene Kirche im ganzen Land bekannt. Es ist vom Weinbau geprägt, was sich vor allem zur Zeit der Ernte zeigt, wenn sich der ganze Ort in freudvollem Aufruhr befindet, und die staubigen Wege voll sind von bis zum Himmel mit Trauben beladenen, rostigen, noch aus Sowjetzeiten stammenden Trucks.

Die brennende Septembersonne auf Nacken und Kopf, die von den Trauben klebrig-süßen Hände und die Rufe nach »vedraaaa!« (Eimer) haben sich mir eingebrannt. Anfangs war mir die Sprache fremd und ich brauchte lange, um meinen Platz in diesem chaotischen, lauten Ort zu finden. Das bedrückte mich in den ersten Wochen und Monaten. Trotzdem war ich von dem Elan und der Kraft der Gemeinschaft berührt. Alle arbeiteten auf dem Weinfeld; ein guter Einstieg in das Miteinander.

Der Herbst mit angenehm sommerlichen Temperaturen und den in warme Rot- und Brauntöne getauchten Bäumen an den Berghängen und Wegrändern bescherte uns fantastische Lichtspiele. Nach und nach kamen weitere Freiwillige dazu und wir bildeten eine richtige Gruppe, die »mokhalisebi« (Freiwilligen). Das tat gut, ich fühlte mich in dem ganzen Trubel nicht allein. Die Verantwortung war auf mehrere Schultern verteilt, ich nahm mein Teil gerne auf mich. In der Gruppe konnten wir uns über schwierige Arbeitsmomente austauschen und nach einer totalen Krise wieder aufbauen – was häufig vorkam. Das Freiwilligenzimmer war unser Rückzugsort und unsere Kraftquelle. Wir mussten es aber immer lautstark vor ungebetenen Besuchern verteidigen. Eine andere Kultur, ein anderes Verständnis von Privatsphäre. Ich gewöhnte mich daran, dass in der Mittagspause plötzlich ein Kind ins Zimmer stürmte und vor meinem Bett stand.  Mit dem Winter und dem ersten Schnee auf den Berggipfeln kam Corona nach TEMI. Wir gingen in eine zweiwöchige Quarantäne, maßen die Temperaturen aller Bewohner dreimal täglich. Obwohl niemand in der Gemeinschaft  ernsthaft erkrankte,  war die Zeit ziemlich anstrengend. Wir durften das Gelände nicht verlassen. Einen besitzergreifenden Ort, dem man nur entkommt, wenn man ihn für ein paar Stunden physisch verlässt. Schließlich brach die Adventszeit an und brachte Licht ins Dunkel. Ich war lange nicht mehr so in Weihnachtsstimmung wie in Georgien. Wir bastelten Sterne und buken Kekse. Es gab auf einmal einen roten Faden, dem wir folgen konnten. Auch die Aussicht, über die Feiertage eine knappe Woche mit den Kindern und zwei Mitarbeitern nach Bakuriani im Kleinen Kaukasus zu fahren, hob die Stimmung. Wir wohnten in einer Berghütte, im Schneewunder, ohne fließendes Wasser, mit einer Menge georgischen Weins. Wir teilten uns den kleinen Raum mit sechs Kindern, das Jüngste gerade mal acht. Eine anspruchsvolle Zeit, aber zutiefst wertvoll für unsere Beziehungen zu den Kindern. Wir spielten im tiefen, kristallweißen
Schnee, schlitterten mit Plastiktüten steile Hänge hinunter, gaben uns ohne Ende dem UNO hin, sangen georgische Lieder, stritten und schimpften, lachten und mummelten uns am Ofen ein. Ich lernte Skifahren. Es tat gut, wieder selbst etwas zu lernen.  In Georgien wird Neujahr (achali tzeli) aufwändig gefeiert. In der Nacht auf den ersten Januar kommt »tovli papa« (der Weihnachtsmann), bringt Geschenke,  und um 24 Uhr wird mit Liebe und Leidenschaft geböllert. Es werden Geschenke verteilt, es gibt eine große Tafel mit Unmengen Kuchen und Süßigkeiten. Die Freiwilligen sollten das Programm gestalten. Solche unkonkreten Aufgaben stressen mich immer sehr.

Doch wie so vieles in diesem Jahr ergab sich das Meiste von alleine und ich brauchte in erster Linie Vertrauen und Gelassenheit. Beides war manchmal schwierig aufzubringen. Letztlich machten wir Disco, schauten Mr. Bean und spielten bestimmt eine Stunde lang »Reise nach Jerusalem«, das absolute Lieblingsspiel in TEMI. Alles halb so schlimm also. Doch es ging gleich weiter: Ich wollte zusammen mit einer anderen Freiwilligen anlässlich der Heiligen drei Könige ein kleines Theaterstück mit den Bewohnern einstudieren. Wir hatten uns für Schneewittchen und die sieben Zwerge entschieden. Die Sprachbarriere und unsere fehlende Autorität erschwerten das Vorhaben.

Glücklicherweise half unser Chef, endlich konnten wir konstruktiv proben. Trotz aller bis zum Schluss nicht gelösten Probleme war ich nach der Aufführung stolz auf meine bunte Truppe, die begeistert den Beifall der Zuschauer genoss.  Ich hatte verstanden, dass bei der sozialen Arbeit das Ergebnis völlig nebensächlich ist. Es kommt auf den Weg dorthin mit all seinen Höhen und Tiefen an. Ich schluckte also meinen künstlerischen Anspruch herunter und ließ mich mitreißen vom Enthusiasmus und Humor der Gemeinschaft. Nach dieser Theatererfahrung hatte ich das Gefühl, jetzt bin ich wirklich angekommen.

Die Mutter eines kleinen Jungen, die in der Gemeinschaft lebt, ist mental behindert. Dennoch ist sie recht selbstständig. Tom war sechs Jahre alt, als ich kam. Er wächst im absoluten Chaos auf, besonders was Bezugspersonen betrifft. In seinem jungen Alter sind die Folgen deutlich spürbar. Wir Freiwilligen sind im Umgang mit ihm überfordert. Die »Tom-Problematik« bewegte mich zutiefst. Über zwei Wochen verbrachten wir jeden Vormittag zusammen und gingen auch danach selten getrennte Wege. Jede »Tom-Zeit« war ein Abenteuer, völlig unberechenbar, nervenaufreibend, aber auch immer wieder unglaublich schön und lebendig. Dennoch ließ meine Geduld für Tom rapide nach. Ich wurde ungerecht, müde, konnte ihn trotz aller Zuneigung nicht gut betreuen. Es kostete mich einiges an Überwindung, mir mein Versagen einzugestehen und in der wöchentlichen Arbeitsbesprechung offen zu kommunizieren. Daraufhin teilten wir die Verantwortung für Tom auf und ich konnte mich nochmal voll auf das Abenteuer einlassen. Ich habe durch ihn unglaublich viel lernen dürfen, viele der Ängste, die ich vorher vor Kindern gehegt hatte, sind dank ihm verschwunden. Ich lernte durch ihn, in mir selber zu ruhen, klar zu sein in meinen Wünschen und Regeln, und nicht zuletzt, den Humor nie zu verlieren.

Der Frühling rollte mit explodierendem Grün und voller Lebensenergie über uns hinweg. Neue Aufgaben im Weinfeld, Garten oder Gewächshaus bereicherten auf erfrischende Art unseren Arbeitsalltag. Im Mai kamen zwei kurze Tbilisi-Auszeiten, die mir sehr guttaten, sowie eine Reise nach Tuschetien im Juli. Ich wanderte zusammen mit einer anderen Freiwilligen eine Woche durch eine traumhaft wilde und unberührte Berglandschaft. Wir erlebten die überschwängliche Gastfreundschaft und Herzlichkeit der Georgier mit aller Intensität und konnten uns durch unsere zum damaligen Zeitpunkt soliden Georgischkenntnisse auf sie einlassen.  Die letzten Wochen meines Dienstes waren vom verzweifelten Wunsch geprägt, jedem Menschen noch einmal ganz bewusst und wertschätzend gegenüberzutreten. Ich verabschiedete mich mit Hingabe, aber der Schmerz wurde eindeutig von Rückkehr-Freude überstrahlt. Kurz bevor wir ins Auto stiegen, flossen dann doch die Tränen. Werde ich jemals wieder das Glück haben, ein so unglaublich intensives, erlebnisreiches und lehrreiches Jahr zu verbringen?

Ein letzter Blick auf die Kirchenfestung und die Weinfelder entlang der Straße nach Telavi, die Überquerung des Alazani-Flusses – ich empfand ein bisschen Wehmut, aber vor allem tiefe Dankbarkeit.

Wir Freiwilligen verbrachten noch ein paar Tage zusammen in Tbilisi, um uns voneinander zu verabschieden. Dann weilten wir noch eine Woche mit einem Teil der Bewohnerinnen zeltend am Schwarzen Meer.

In einer milden Augustnacht nahm ich mit einem anderen Freiwilligen die Fähre
nach Odessa in die Ukraine. In Polen packte mich dann mit voller Wucht die Sehnsucht, endlich zu Hause anzukommen.

Seit bald einem Monat bin ich wieder in Deutschland. Übermütig stürzte ich mich in den ersten Tagen ins soziale Leben und merkte schnell, dass ich mehr Zeit brauchte.

Wenn ich gefragt wurde: »Na Merle, wie war’s denn?«, wusste ich keine Antwort. Mir wurde klar, dass ich noch nicht genau herausgefunden hatte, was dieses Jahr für mich bedeutete. Ohne diese Frage vollständig beantwortet zu haben, starte ich nun in einen neuen, unbekannten Lebensabschnitt. Ich bin wieder an einem fremden Ort, in einer fremden Stadt, teile meinen Wohnraum mit unbekannten Menschen. Sollte doch einfacher sein, sich auf Neues einzulassen, nach so einem Freiwilligenjahr? Nicht unbedingt. Die Sorgen und Ängste sind geblieben, ich bin schließlich noch dieselbe Person.

Aber doch, etwas hat sich ein wenig verändert: Ich bin gelassener geworden, vertrauensvoller und selbstbewusster. Ich sehne mich nach der Arbeit mit Kindern, das hätte ich mir vor über einem Jahr nicht träumen lassen! Und mein Herz ist weit und warm durch diese wundervollen, einzigartigen, strahlenden Menschen!