Dada oder was? Shakespeare frei in Szene gesetzt

Nele Peter

Ich stehe im Fundus und versuche, die Papageienfeder wiederzufinden. Sie ist sehr wichtig, denn sie verleiht dem Träger die Macht, mit einer Berührung Schlafende zum Träumen zu bringen. Ich finde sie unter Mercutios Pelzmantel und den Elfenflügeln. Der Elf wendet nur kurz den Blick vom Spiegel ab und fährt fort seine grellroten Lippen nachzuziehen.

Jetzt stehen der Elf und ich hinter der Bühne, während ein Professor im Schlafrock etwas über »REM-Schlafphasen« erzählt. Das ist unser Stichwort und begleitet von schwerer, russischer Polka betreten wir die Bühne. Ich habe die Feder fest in der Hand. Sie ist wichtig. Sie ist unser einziges Requisit.

Entscheidung im Schlaf

Das ist nicht etwa der Anfang eines wirren Traumes, sondern der unseres Theaterstückes, das wir in der 11. Klasse im Englischunterricht an der Waldorfschule Rostock spielten. Die Idee zu diesem Projekt entstand in der »Shakespeare-Epoche«, in der wir uns eingehend mit Shakes­peares Werken auseinandersetzten.

Zu verschiedenen Themen, Passagen, Gedanken, Bildern, Akten aus Shakespeares Texten sollten sich vier bis sechs Leute zusammenfinden und ein Schauspiel oder sonst irgendetwas, was das gewählte Thema im weitesten Sinne darstellt, eigenständig erarbeiten. So wenige Vorgaben? Wir staunten. Später sollten wir von unserer Lehrerin erfahren, dass es ihr zuerst nicht leicht fiel, uns so viel Vertrauen entgegenzubringen.

Es bildeten sich vier Gruppen und wir machten uns auf die Suche nach einer Basis, einer Inspiration, einem Gedicht aus der Feder Shakespeares.

Unsere Gruppe entschied sich für die Traumsequenz »Queen Mab« aus »Romeo and Juliet«, wobei wir noch keine Vorstellung von der Verwirk­lichung hatten.

Herausforderung Freiheit

Zwanzig kreative Waldorfschüler machten sich an die Arbeit, als hätten sie darauf gewartet, dass endlich alle Schranken aufgehoben werden. Doch nach der anfänglichen Euphorie über die Freiheiten und den Unterrichtsausfall merkten wir, dass »Freiheit« von Nahem betrachtet komplizierter ist als gedacht. Wir wurden uns ihrer zögernd bewusst und erahnten, welche Möglichkeiten uns offenstanden, welche Entschiedenheit nötig wäre, Ideen auszusortieren und vor allem, nicht zu versuchen, einem Anspruch gerecht zu werden, außer dem eigenen.

Die zweite Herausforderung war, dass sich nicht jeder von uns als Schauspieler oder theaterinteressiert beschreiben würde. Die Anfänge waren zäh.

Wir versuchten zuerst, einen komplexen Handlungsstrang zu kreieren, an dessen Ende eine Moral oder etwas ähnlich Belastendes stünde. Dieser sollte dann in Shakespeare-Englisch mit dramatischen Gesten, berechneten Laufwegen und elisabethanischen Kostümen vorgetragen werden. Nach den ersten Proben setzte das ein, was man kreative Arbeit oder Kunst nennen könnte: Kein Mensch versteht Shakespeare-Englisch, die elisabethanische Mode hat auch nach 600 Jahren nichts von ihrer Unbequemlichkeit eingebüßt und Laufwege mögen bei einem Achtklass-Stück hilfreich sein, hielten uns aber davon ab, spontane Gefühlsausbrüche und bewusst-unbewusste Gesten wirklich unbewusst zu gestalten.

Auch die Moral von der Geschicht ließen wir wegen mangelnder Kompetenz fallen. Oder anders: Niemand hatte Lust, sich mit gesellschaftskritischen Metaphern zu beschäftigen. Das hätte uns den Freiraum für die vielen, (scheinbar) sinnfreien Spinnereien genommen. Sie waren so zahlreich, dass jeder in die Kunstpausen, Tanzeinlagen und das Gerede über Waldfeen seine eigene Erklärung legen konnte. Die archaischen Ausdrücke ersetzten wir durch normales Englisch, wobei aber darauf geachtet wurde, dass kein Slang verwendet wurde. MTV gibt’s täglich im TV.

So kam es dazu, dass »Queen Mab« als eine launische, von Rachsucht getriebene Waldelfe auf Spitzenschuhen auf der Bühne daherkam. Dass Romeo in einem Deuter-Schlafsack und einer Adidas-Jacke seinen Rausch auskaterte und von

Liebeskummer geplagt von Julia schwärmte. Dass Mercutio wie ein verlorener Paradiesvogel aus einer fernen Zeit mit Pelzmantel über die Bühne sprang, sich über Romeos Liebe lustig machte und von seiner Queen Mab erzählte, die er liebe wie eine giftige Blüte und die er nur sehen könne, wenn er nicht an sie denke, weshalb er opiumsüchtig geworden sei.

Und die vierte Rolle war eigentlich keine Rolle. Franz spielte sich selbst. Franz war Franz, vielleicht in einer abstrakten Karikatur: die Leggings, der grüne Pelzmantel, der geschminkte Mund und die Flügel trugen zur seltsam androgynen Erscheinung eines Halbwesens bei. Sein Part war das Akkordeonspiel und er hatte Romeo auf Deutsch mit russischem Akzent zu erklären, dass Queen Mab sich des Nachts in den Bart des Wissenschaftlers einniste, der dann alles beweisen könne, aber nichts wisse. Ansonsten führte Franz Kampfschritte aus oder wirbelte Queen Mab durch die Lüfte ...

Shakespeare hätte sich an die Denkerstirn gefasst und etwas sehr Unelisabethanisches gesagt. Die Ideen sind erst während der Proben entstanden, wobei »Probe« ein falscher Ausdruck ist, weil sich stets alles veränderte und vermehrte. Der meist verwendete Satz war: »Das, was du da eben gemacht hast, war gut, bau'n wir ein.« So wurden wir immer mutiger in unserer Kreativität und bald waren auch nicht nur alle Proben unterschiedlich, sondern auch alle Aufführungen.

Das Ergebnis war ein eigenwilliges, dadaistisches Stückchen Traumsequenz, das ich nicht als »modernes Theater« bezeichnen würde, da wir auf Drogenverherrlichung, Gesellschaftskritik und Sexszenen verzichteten. Es ist ein originelles Werk, das nur der Lust am Schauspiel wegen entwickelt wurde, zum Nachdenken einlädt, aber nicht nötigt und an Unprofessionalität nicht zu übertreffen ist.

Eines aber zeigt diese Spinnerei sonnenklar: Theater entsteht auch ohne Regie, Budget, Lehreraufsicht, dressierte Sakkoträger und kann auch von einer Horde Halbstarker wie uns betrieben werden. Wenn man uns denn lässt.

Nele Peter ist Schülerin der 11. Klasse der Waldorfschule Rostock.