Die Welt unter dem Kopftuch. Ein Selbstversuch

Von Anna Magdalena Claus, Juli 2012

Wie sieht die Welt unter dem Kopftuch aus? Eine Schülerin der Uhlandshöhe hat es ausprobiert.

Jetzt, wo es schon so warm ist, habe ich Lust, alle meine Sommerkleider auf einmal anzuziehen. Das Warten hat endlich ein Ende und die Menschen zieht es in die Parks und Cafés. Mit dem Anziehen meiner kürzesten Hosen muss ich aber noch einen Tag warten. Nicht weil das Wetter schlecht ist, sondern weil mir heute ein Selbstversuch mit dem Kopftuch bevorsteht.

Wenn die meisten Menschen viel Haut zeigen, fallen mir die kopftuchtragenden Muslima besonders auf. Wie fühlt sich das Tragen eines Kopftuchs an? Ist es nicht sehr heiß? Das und mehr möchte ich heute herausfinden. Ich werde also mein »Tuch tief über mich ziehen«. (»Sie sollen ihre Tücher tief über sich ziehen. Das ist besser, damit sie erkannt und nicht belästigt werden«, Sure 33, Vers 60). So »verkleidet« werde ich mich durch Stuttgart bewegen, U-Bahn fahren, essen gehen, einkaufen, über den Wasen schlendern. Was aber erwarte ich von diesem Experiment? Erwarte ich offenes Unverständnis oder betonte Toleranz? Wie werde ich mich fühlen? Eingeschränkt, frei, exotisch?

Ich versuche gar nichts zu erwarten, mit unvoreingenommenen Blick den Tag zu beobachten. Dass das unmöglich ist, merke ich sehr schnell.

Ich sitze in der U-Bahn und kann die Fahrt zum Charlottenplatz nicht wie sonst entspannt genießen. Jeder meiner Blicke bekommt Bedeutung, jede Handlung, Geste, Bewegung wird von mir kontrolliert. Ich komme mir vor wie eine Mogelpackung. Auf meinem Etikett steht Dattel, aber eigentlich bin ich ein deutscher Kohlkopf. Diese erschwindelte Zugehörigkeit, die ich automatisch mit meinem rosafarbenen Kopftuch eingehe, wird mich den ganzen Tag beschäftigen und in prekäre Situationen bringen.

Soll ich wie sonst Blickkontakt zu anderen Menschen suchen? Darf ich lächeln? Die wichtigste Frage aber: Warum mache ich mir darüber so viele Gedanken?

Ich gehe davon aus, dass jede meiner Handlungen von den Mitmenschen genauestens wahrgenommen wird und stellvertretend für andere Muslime gilt. Mit meiner Kopfbedeckung repräsentiere ich angeblich eine Weltreligion, vielleicht ist es das, was mich unter Druck setzt. Dabei kann ich nicht einmal sagen, ob ich mit besonderer Aufmerksamkeit gemustert werde. Mir kommt es jedenfalls so vor, als ob ich nicht nur für mein eigenes Tun verantwortlich bin, sondern darüber hinaus für viele muslimische »Gleichgesinnte«. Was für ein ungewöhnliches Gefühl! Nicht die individuelle Persönlichkeit steht im Vordergrund, sondern die Religionsgemeinschaft. Was für ein vertrauensvolles und Sicherheit gebendes Gefühl auf der einen Seite, was für eine Einschränkung und gefühlte Machtlosigkeit auf der anderen.

Ich komme am Charlottenplatz an und spaziere anschließend über den Schlossplatz. In einem Café bestelle ich mir gerade ein Tiramisu, als der sympathische Kellner mich dezent darauf aufmerksam macht, dass Gelatine im Tiramisu enthalten sei. Er sagt: »Ich bin auch Moslem, deswegen sag ich dir Bescheid. Sei mir deshalb nicht böse.« Die Situation beginnt mir unangenehm zu werden, als er sich bei mir erkundigt, ob ich Türkin sei. »Nein«, antworte ich, »aber meine Mutter«. Der Kellner lächelt und macht mir ein Kompliment. Ich lächle geschmeichelt zurück, möchte aber am liebsten sofort aufstehen und gehen. Die Lüge macht mir ein schlechtes Gewissen. Ich komme mir falsch vor, ich betrete ein Gebiet, wo ich nicht hingehöre. Ich habe mir zwar vorgenommen, von meinem Experiment zu erzählen, wenn ich auf mein Kopftuch angesprochen werde, im Fall des muslimischen Kellners kommt mir diese Auflösung aber sehr unpassend vor. Immer deutlicher wird mir klar, dass diese Kopftuch-Erfahrung, die ich mache, nahezu nichts mit dem Alltag kopftuchtragender Frauen in Stuttgart zu tun hat. Das zu behaupten, wäre meiner Meinung nach anmaßend.

Ich verlasse das Café und schlendere durch die Königsstraße Richtung Hauptbahnhof. Ich betrete verschiedene Läden und habe trotz der schönen Sommerkleider (die ich auch wirklich brauchen könnte), keine Lust, sie anzuprobieren. Mit dem Kopftuch wäre mir das zu kompliziert, ich bin froh, dass es, ohne zu verrutschen, um meinen Kopf gehüllt bleibt, obwohl es mir darunter sehr warm wird. An die Hitze müsste ich mich also gewöhnen, hätte ich die Entscheidung gefällt, von nun an für immer in der Öffentlichkeit ein Kopftuch zu tragen. Man muss sich daran gewöhnen wie an das Tragen unbequemer hoher Schuhe oder String-Tangas. Ausnahmsweise muss ich mich überwinden, über das Frühlingsfest auf dem Cannstatter Wasen zu schlendern. Ich komme mir fehl am Platz vor und freue mich über jede der drei kopftuchtragenden Frauen, die mir begegnen. Trotzdem würde ich am liebsten gleich wieder nach Hause fahren. Aber ich motiviere mich, indem ich mir am Schießstand fünf Schuss für zwei Euro leiste, der Inhaber bedient mich muffig und desinteressiert. Für meine fünf abgeschossenen Keramiksterne erhalte ich einen pinkfarbenen Plüsch-Würfel, passend zu meiner Kopfbedeckung. Nach einem unspektakulären Abstecher ins Bierzelt, in dem ich ignoriert werde, trete ich meinen Heimweg an und freue mich auf den Moment, in dem ich mein Kopftuch ausziehen kann.

Zu Hause angekommen, ziehe ich nicht nur mein Kopftuch aus, sondern streife gleich ein fremdes Gefühl mit ab. Wie der Alltag für kopftuchtragende Frauen in Stuttgart aussieht, werde ich auf diesem Weg wohl doch nicht erfahren.

Die Autorin ist Schülerin der 13. Klasse an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart

Kommentare

Marc Hoffmann, Wunstorf, 11.08.12 07:08

Hallo Anna, zuerst einmal meinen größten Respekt, daß Du das einfach ausprobiert hast, viele würden sich das wahrscheinlich gar nicht erst trauen. Ich finde es toll, daß Du das einfach mal gemacht hast anstatt Dich von Vorurteilen leiten zu lassen - wie heißt es doch so schön: "Bevor Du über jemanden urteilen kannst solltest Du ersteinmal einen Tag in seinen Schuhen gelaufen sein." In diesem Fall war es wohl eher das Kopftuch...
Angeregt durch die vielen Diskussionen um das Kopftuch habe ich vor einigen Jahren schon angefangen mich über die Hintergründe schlau zu machen, weil ich einfach wissen wollte warum eine Muslima ein Kopftuch trägt. Meine Meinung war eigentlich schon immer, daß es ja eigentlich gar nicht mal schlecht aussieht und wenn sie es tragen wollen, weiles zu ihrer Religion und Tradition gehört, dann sollen sie es von mir aus gerne machen. Von daher wollte ich auch bei den Lästereien von Freunden á la "Guck mal schon wieder eine mit Schweißkopftuch" nicht mitmachen - nur weil sie es lustig finden und zu faul sind sich über die Hintergründe schlau zu machen - das war mir irgendwie zu plump.
Also hab ich mal ein wenig im Internet nachgelesen und muß sagen, daß es sich gelohnt hat - ich weiß nun, warum eine Muslima ein Kopftuch trägt und dass es in den Medien oftmals falsch dargestellt wird - z.B. tragen es viele aus ihrer eigenen Entscheidung heraus und nur die wenigsten werden dazu gezwungen.
Aber es gibt auch viele Einschränkungen, die mit der Entscheidung es zu tragen einhergehen und viele Regeln, die es zu beachten gilt.
Von daher kann ich es gut nachvollziehen, daß Dir bei Deinem ersten Ausflug so gekleidet ein wenig mulmig zumute war - zumal ich vermute, das Du auch nicht wußtest, was es zu beachten gilt und so auch immer Angst haben mußtest vielleicht doch unangehm aufzufallen.
Aber ich finde es trotzdem sehr mutig von Dir, das Du dieses Experiment gewagt hast, vielleicht solltest Du Dich mal ein wenig über die Hintergründe usw. informieren und es dann einfach nochmal probieren - dann ist die erste Unsicherheit auch verschwunden und Du kannst Dich wesentlich freier und selbstsicherer bewegen - und glaub es achten sehr viel weniger Leute auf Dich als Du denkst, den meisten ist es eher gleichgültig ob da nun ein Mädchen mit oder ohne Kopftuch lang läuft. Alles andere spielt sich nur im Kopf ab - Du solltest Dir immer bewußt sein, daß es im Prinzip nur ein Stück Stoff, eine Kofbedeckung ist,die jede Frau tragen kann, egal ob Muslima oder nicht - meine Oma hat früher bei schlechtem Wetter um ihre Frisur zu schützen auch immer eins umgebunden.
Ich denke, wenn jemand das wirklich möchte, dann kann sie auf diesem Wege schon rausfinden, wie der alltag einer Kopftuchtragenden Frau in der Öffentlichkeit so aussieht, aber da gehören sicher mehr Ausflüge zu, als wie nur dieser eine, eher entäuschende Versuch, der doch mehr von Deiner Unsicherheit als allem anderen geprägt war.
Ich finde es auf jeden Fall gut was Du gemacht hast und Du hast meinen allergrößten Respekt dafür - wenn das mehr Mädchen und junge Frauen mal ausprobieren würde, dann könnte das wirklich helfen Vorurteile abzubauen.
Falls Du es noch mal versuchen möchtest, dann wünsche ich Dir viel Glück, das es das nächste mal besser klappt und wenn nicht ist es auch okay - ich denke mal seit dem Versuch siehst Du Frauen mit Kopftuch mit ganz anderen Augen als vorher.

LG Marc

Johann Alfred Posch, Deutsch Griffen, Österreich, 17.01.17 17:01

Als wir noch Kinder waren haben fast alle Frauen und Mädchen bei Wind und schlechtem Wetter Kopftuch getragen. Da gab es bei uns im Ort und auch sonst kaum Muslime in inserem Land. Es war völlig normal ein Kopftuch zu tragen. Mit Religion hatte das gar nichts zu tun! Das Kopftuch hat auch den Vorteil das es kaum Platz braucht, wenn man z.B. bei Schönwetter unterwegs ist und das Wetter plötzlich umschlägt. Ich kann mich noch erinnern wie meine Mutter darauf achtete wenn es schlechtes Wetter gab, das meine Schwester ihr Kopftuch richtig festgebunden hatte damit Sie damit ihre Ohren geschützt hat.
Wären nicht in kürzester Zeit so viele Muslime nach Europa gekommen, gäbe es diese Diskussion um das Kopftuch bestimmt nicht.
Als ich noch ein kleine Bub war haben wir beim spielen mit den anderen Kindern manchmal die Kopfbedeckung getauscht. Ich fand damals das ein Kopftuch auch als Bub für mich angenehm zu tragen war und bei Windwetter war es für mich angenehmer als die Kappe welche meine Ohren nicht schützte.
Auch viele Trachtenfrauen tragen noch Heute ein Tuch als Umhang welche diese bei umschlagenden Wetter dann als Kopftuch tragen.
All jene Menschen welche sich durch das tragen von Kopftuch oder anderen Kleidern verletzt fühlen sollten einmal darüber nachdenken was anderen Menschen an Ihnen nicht gefällt.
Jenen Menschen die sich als Christen darüber aufregen sollten ihre Bibel einmal genauer lesen wo da steht: Ein Mensch sieht das, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an!

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