Eine Weihnachtsgeschichte

Amina Eitner

Die Geschenke lagen auf einem Tisch im Wohnzimmer, eingepackt in kitschiges Geschenkpapier. In seinen Erinnerungen roch das ganze Haus an Heiligabend nach Tannenzweigen, süßem Gebäck und Tee. Der Weihnachtsbraten garte in der Küche. Und nun war dieser Tag wie ein ganz normaler Tag, nichts Besonderes. Der Vater arbeitete noch, sein Bruder spielte auf seinem Handy, die Mutter bügelte Wäsche, der Nachbar staubsaugte ... Er dachte an früher, als er und sein Bruder noch klein waren und die ganze Weihnachtszeit geheimnisvoll und besonders war. Er träumte so vor sich hin ... bis sie sich auf den Weg in die Kirche machten. Die Familie wohnte mitten in einer Großstadt. Michael freute sich auf die Kirche, auf die Ruhe und Andacht. Sie liefen an den befahrenen großen Straßen entlang, es roch nach Abgasen, auch am Heiligen Abend war es voll und laut. Jeder musste dringend irgendwo hin und wollte ja nichts verpassen. Eine Welt voller Eile und Hast, voller Oberflächlichkeit und Äußerlichkeiten. Nirgends herrschte Stille. Die Werbeplakate und Leuchtanzeigen boten die neuesten Angebote zu Topp-Preisen an und zogen mit aufgeregtem Blinken die Aufmerksamkeit auf sich.

Der Wind fegte das Laub über die Straße, vermischt mit Bonbonpapier, Essensresten und Zigarettenstummeln. Sie gingen den Main entlang, warteten an einer Ampel, an der sie nur ungern von einem ungeduldigen Autofahrer herübergelassen wurden und liefen weiter zum Marktplatz, auf dem noch die Reste des Weihnachtsmarkts standen: verlassene Buden, zusammengeklappte Bierbänke und -tische.Vor der kleinen Kirche am Rande des Platzes standen viele Leute. Sie tranken Glühwein aus Plastikbechern und aßen Lebkuchen. Michaels Eltern kamen ins Gespräch mit alten Bekannten, sein Bruder unterhielt sich mit einem Freund aus dem Sportverein. Michael betrachtete die Kirche, beobachtete die kleine Menschenmenge und verfolgte ihre Gespräche. Dann schlenderte er um die Kirche herum und sah eine kleine Maus aus einem Loch in der Kirchenmauer huschen. Michael griff in seine Tasche und holte ein paar Walnüsse hervor, die er auf dem Weg zur Kirche gefunden hatte, knackte sie vorsichtig und legte sie vor das Mauseloch als Weihnachtsgeschenk für die Mäusefamilie. Die Kirchenglocken läuteten. Die Becher wurden eingesammelt, das Kirchentor öffnete sich und die Menschen traten ein. Die Kirche war schlicht, nur die Fenster waren bunt, sie zeigten die biblischen Geschichten. Das Gewölbe war hoch, an der einen Seite stand eine große Orgel, auf der anderen der Altar. Die Familie und die anderen Besucher setzten sich und langsam wurde es still. Die Kerzen auf dem Altar wurden angezündet und der Pfarrer trat in seinem schlichten Gewand ein. Der Gottesdienst begann. Michael blickte um sich und ließ den Raum auf sich wirken. Er sah ein Fenster, das ihm besonders gut gefiel. Es zeigte einen Engel, der den Hirten auf dem Feld die frohe Botschaft verkündete.

Plötzlich schien sich das Fenster zu öffnen. Er sah den tief dunkelblauen Abendhimmel. Der Himmel schob sich wie ein Vorhang zur Seite und ein gewaltiges Licht kam zum Vorschein. Das Licht leuchtete in vielen Farben, in der Mitte aber war es am kräftigsten. Er sah die Farben des Regenbogens und von der Mitte ausgehend einen warmen Lichtkegel, der immer größer wurde und sich in seiner Form verwandelte. Michael war nun ganz von diesem Licht umgeben, er fühlte sich leicht und schwerelos. Es gab keine Grenzen und Kanten mehr, alles ging ineinander über. Sein Körper ging ganz in diesem Licht auf.

Plötzlich erkannte er: Ein Engel trat aus dem Licht hervor. Der Engel war groß, er hatte weite, leuchtende Schwingen und es schien, als wolle er ihn mit seinen Flügeln umarmen. Michael ließ sich von dem Licht und den weiten Himmelssphären tragen. Der Engel begleitete ihn. Die Himmelswelt war unbeschreiblich schön: Das Licht wandelte sich in seinen Formen und Farben zu großen Landschaften. Es waren Landschaften der Unendlichkeit. Aus der Ferne hörte er Klänge, die er so noch nie gehört hatte. Es war Musik, die durch die ewige Weite des Himmels tönte. Sphärenmusik, die ihn mit Liebe erfüllte. Sein Engel führte ihn weiter durch das Licht, bis sie zu einem Thron kamen. Dort ließ der Engel sich nieder. Michael blickte den Engel ehrfurchtsvoll an. Das Leuchten blendete ihn. Dann erhob sich der Engel und stand nun in voller Größe vor ihm. Er vernahm ein Flüstern wie aus der Ferne, das näher zu kommen schien: »Engel sind überall ... öffne dein Herz für sie ... dann fühlst du sie!« Nach diesen Worten verschwand der Engel wieder, langsam, so wie er gekommen war, in der Ferne. Er wurde wieder eins mit dem Licht und löste sich mit dem Himmel auf. Die Farben und das Licht verblassten und langsam zog sich ein blauer Schleier darüber. Der Schleier wurde immer dunkler und verwandelte sich in eine tiefdunkle Nacht. Dann schloss sich das Kirchenfenster und Michael saß wieder neben seiner Familie in der Stadtkirche am Main.

Er war wie verwandelt und spürte in seinem Körper dem wunderbaren Ereignis nach. Auch die Welt um ihn herum hatte sich gewandelt. Die Gemeinde saß andächtig da und lauschte dem Pfarrer, der seine Worte beendete und mit langsamen Schritten den Raum verließ. Die Gemeinde blieb leise sitzen, niemand raschelte und es entstand eine Stille, die alle Menschen zu genießen schienen. Niemand traute sich, diese Stille zu stören und aufzustehen ...

Auf dem Rückweg nach Hause leuchteten die Sterne, es war eine klare, kalte Nacht. Michael schaute hinauf in den Himmel. Als sie an einem aufgestellten Tannenbaum vorbeikamen, brach der Junge einen Zweig ab und trug ihn mit nach Hause. Dort stellte er ihn in einer Vase auf den Tisch und langsam roch es auch in der Wohnung nach Weihnachten. Der Duft breitete sich wie die Farben im Himmel im Raum aus.

Zur Autorin: Amina Eitner ist ehemalige Schülerin der Freien Waldorfschule Esslingen und arbeitet heute als »selbstbestimmende« und »selbstorganisierende« Musikstudentin und -lehrerin.