Freiheit ist anstrengend

Valentin Hacken

Katja will etwas mit Menschen machen, organisieren und so. Hannah holt sich in Afrika Entwicklungshilfe. Gregor will studieren und Geld verdienen.Noch nie gab es so viele Möglichkeiten wie heute, hat man ihnen gesagt. Früher haben noch die Eltern den Beruf entschieden, das ist ja heute undenkbar. »Ihr könnt alles machen.« ZumBeispiel ein Auslandsjahr in China. Aber man hat ihnen auch gesagt, dass draußen ein rauer Wind weht, in der Wirtschaftskrise erst recht, da muss man sich schon anstrengen, wennman was werden will. Katja macht deswegen auch fleißig Praktika und hat im Sportverein eine Gruppe geleitet. Das hat ihr Spaß gemacht. Und sie kann das jetzt in ihrer Bewerbungsmappe dokumentieren, unter Soft Skills.

Rollenbilder, klassische Werte und Traditionen sind für Katja, Hannah und Gregor nur noch ein schwaches Glimmen am fernen Horizont. Sie stehen am Meer und wollen los. Jedoch, es fährt ein Boot nach nirgendwo … Mit der 12. Klasse ist für die einen die Schule ja zu Ende, für die anderen das Ende gefährlich nahe. Vor allem aber stellt sich die Frage, was man nun tun will, immer drängender. Keine Ahnung, was. Das höre ich jeden Tag. Ich mache erstmal; studiere erst mal;mache jetzt mal eine Ausbildung. Aber dann, dann geht es los. Dann will ich meinen ganz eigenen Weg finden. Oder ich mache das gleich, ein Jahr Australien und mit der zündenden Idee wieder zurück.

Erziehung zur Freiheit, there we go!

Das Etikett »Freiheit« hat etwas, was es gar nicht verdient. Beliebigkeit etwa. Freiheit ist nicht Beliebigkeit. Freiheit fängt auch nicht da an, wo ich einfach irgendetwas tue. Das wäre Nachgeben – hat mit Freiheit so viel zu tun wie ihr Gegenteil, versteinern. Im Nachgeben handle nicht ich, ich gebe nur nach, wem und was auch immer. Gerne wird auch alternativ mit frei verwechselt. Doch vieles, das sich alternativ nennt und vorgibt, bewusst gewählt zu sein, ist ein Scheitern an einem eigenen oder meist aufoktroyierten Ziel. Ein bisschen lasiert und romantisch wird der Begriff Freiheit gerne mal gewürgt. Bewusstsein und Gestaltung, Ergreifen undWandeln der Umstände, das wird gerne vergessen. In Lars von Triers Film »Manderlay« versucht eine junge Dame, eine Sklavenkolonie in die Freiheit zu bringen. Sie ruft die Freiheit aus und gibt dann Unterricht in Demokratie. Die Techniken sind schnell gelernt. Doch Kelly, die junge Dame, scheitert. Die Aufseher mussten die Sklaven zum Unterricht der Freiheit prügeln, damit war ihre Glaubwürdigkeit gestorben. Zum anderen wollten die insgesamt ordentlich behandelten Sklaven einfach nur versorgt sein.

Nach oben kommt Freiheit, das hat man uns gesagt. Wir haben uns das gemerkt. Katja, Hannah und Gregor hatten sich das auch gemerkt, aber dann war die Schulzeit irgendwie um und jetzt machen sie eben mal.

Vergessen, worum es geht?

Freiheit kann anstrengend sein. Es führt jedoch kein Weg daran vorbei, wenn wir in der Oberstufe etwas bewegen wollen, freie Lehrer zu finden und auszubilden. Denn was man gerade in der Oberstufe scheinbar gerne zwischen den Sachzwängen vergisst, ist der Anlass, warumwirWaldorfschule überhauptmachen, warum wir Schüler sie besuchen, warum Pädagogen darum ringen und Eltern sie unterstützen. Wir sind Teil eines Kulturimpulses! Freiheit im Geistesleben, Gleichheit im Rechtsleben und Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, daraus speist sich der Antrieb unserer Pädagogik, in deren Mittelpunkt der Einzelne mit seiner individuellen Persönlichkeit und Entwicklung steht. Und genau dieser Einzelne: Er soll nun in Freiheit entlassen werden. Er soll sein Leben in die Hand nehmen können, erkennen und verstehen, was um ihn geschieht, und daraus etwas machen. Dazu braucht er jedoch nicht nur ein großes Maß an Kraft, sondern auch immenses Vertrauen in die Möglichkeiten von Gestaltung jeder Art. Vorbilder aus dem eigenen Leben,Menschen, die genau das angehen. Noch kürzer: Lehrer. Denn unfreie Lehrer werden nicht in Freiheit entlassen können. Wer sich zu einem Abschlussgehilfen degradieren lässt, eröffnet nicht, wie oft behauptet, den Schülern alle Chancen. Alle Chancen eröffnet er ihnen durch Vorleben von Freiheit (das schließt ja einen guten Abschluss nicht aus),statt ein bisschen Moralpredigt und guten Noten.

Geröll wegschieben

Übung und Pflege der Wahrnehmung sind nicht Aufgaben, die man mit Ende der Mittelstufe als erledigt betrachten kann, es sind auch nicht kosmetische Zusatzoptionen. Sie sind ein unbedingtes Muss! Denn immer öfter scheitert der Versuch zu unterrichten, jegliche Pädagogik daran, dass Schüler unter einer Decke Geröll sitzen und dort lethargisch Anweisungen abarbeiten.

Da kann man nun von außen bringen, was man will, noch so wichtige Themen, sie kommen einfach nicht an. Es will ja schließlich auch jeder ankommen, sei esmit seiner Werbung, seinem Unterricht, in dem ganzen medialen Dauerdurcheinander.
Dieses Geröll wegzuschieben ist unglaublich anstrengend. Wenn man es geschafft hat, wird es nicht einmal besser, die Masse von Eindrücken könnte einen gelegentlich schier erschlagen. Unter der Decke war Ruhe und es wollte auch niemand etwas. Oberhalb stellt sich die Frage, wie mit derWelt imAllgemeinen, besonders abermit den vielen kleineren und größeren Fragen im Speziellen umzugehen ist.

Katja, Hannah und Gregor haben darauf, oft auch ungefragt, Antwort bekommen. Die Welt, die müsse man schon wirklich verändern. Beispielsweise Klima oder Afrika oder Gewalt. Dem liegt nur ein Missverständnis zugrunde. Kein Schüler will das hören! Denn wenn der Kampf um wache Wahrnehmung gelungen ist, dann muss ihm das auch niemand mehr erzählen. Er will es sehen und handeln. Jetzt und hier.

Was die Jugend alles falsch macht

Vor kurzem habe ich mit dem Lehrer von Katja, Hannah und Gregor gesprochen, welcher mir sein Leid geklagt hat. Sorgen waren es und helfen konnte ich nicht, so habe ich nickend geschwiegen. Die Politiker, someinte er, die haben ja versagt. Und die Wirtschaft könne man ja auch nicht verändern, ein Raubtier könne man nur brechen … Und dann die Probleme mit der Gentechnik. Aber dann folgte doch ein Resümee: Eh nichts machen, das könne man. Aber noch schlimmer fände er, die Jugendlichen würden sich ja auch immer weniger dafür interessieren.

Ach? Wenn ich etwas nicht mehr hören kann, dann ist es das ewige Geschwätz darüber, was die Jugend alles falsch macht. Vielleicht fragt man sich mal, warum viele von uns lieber ihrem Nachbarn einen Kuchen backen, statt auf eine Demo zu gehen, warum wir im Kleinen Gutmenschen und im Großen zu Desinteressierten werden. Wer will mehr als einen ordentlichen Beruf machen, wenn er seine letzten Schuljahre zwischen Erschöpften verbringt? Auch wenn man es manchmal nicht glauben mag, Oberstufenlehrer sind genauso Vorbild wie Klassenlehrer! Nach oben kommt Freiheit. Lehrer als Erziehungskünstler. Lehrer als Menschen, die bewusst gestalten. Lehrer = freie Menschen. Das ist nicht nur ein unglaublich hoher Anspruch. Das verlangt einiges, nicht nur von den Lehrern, sondern von allen, die Schule machen.

Lasst die Lehrer frei !

Denn fordern kann man viel, besonders wenn man es nicht umsetzen muss. Aber was macht es denn oft so unmöglich, Erziehung zur Freiheit ernsthaft zu betreiben? Es ist ein mangelndes Vertrauen in die Pädagogen, das ihren Spielraum eingrenzt. Wenn Eltern das Gefühl haben, ihre Lehrer das Unterrichten lehren zumüssen, wenn sie in Tränen ausbrechen, weil ihr Kind nicht an ihren Abiturvorstellungen brechen will, wenn sie Waldorf in der Unterstufe nett finden und in der Oberstufe gerne als AG hätten, wenn sie mit der Haltung »Freiheit ist schön, aber erst kommt der Beruf« ans Werk gehen, dann wird es eng. Wir Schüler beteiligen uns gerne daran, wie Schule funktionieren kann. Aber vor allem sind wir Schüler und von uns wird die Entwicklung nicht kommen, nicht weil wir nicht wollen, sondern weil wir unser gerade erst auf den Weg machen. In zehn Jahren feiern wir uns großes Jubiläum, 100 Jahre Waldorfpädagogik. Ich hoffe, wir werden dann auch eine neue Oberstufe feiern können. Die Frage der Freiheit stellt sich heute noch so dringend wie vor hundert Jahren. Vielleicht schaffen wir es bis dahin, unseren Pädagogen wieder die Freiheit zu lassen, dass sie gestalten können. Und vielleicht haben wir bis dahin wieder das Selbstvertrauen, es auch zu tun.