Grenzerfahrungen. Impressionen vom Jugendsymposion Kassel

Flora Sasz

Schließlich möchte ich doch selbst bestimmen, was ich sehe und was nicht. Banal, doch das Kopf-Karussell zum allgegenwärtigen Thema »Grenze« kommt nicht zum Stehen. Wenn ich mich nun schon von Pflanzen in meiner Wahrnehmung beeinflusst fühle, wie müsste ich mich doch permanent von meinem Umfeld eingeengt fühlen! Da wäre zum Beispiel der Vordersitz, der den Raum begrenzt, in den Reiserucksack und Beine passen. Oder die Frau, die im Vorbeigehen meine Schulter streift, meinen persönlichen Schutzraum versehentlich überschreitet. Dort der Mann, dessen leisen und fröhlichen Gesang ich als störend empfinden könnte. Will ich aber gar nicht. Denn darum geht es wohl bei Grenzen: Jeder Punkt meiner Aufzählung könnte andere Menschen stören, während es mir Spaß macht, sie mir auszumalen. Dann ist da noch die Tür, die wohl für die sichtbarste Grenze steht. Und dahinter? Irgendwo dahinter, bald schon weit entfernt, liegt die schöne Wilhelmshöhe in Kassel. Ob sie wirklich schön ist, kann ich auch nach mehrmaligen Besuchen noch nicht ganz bestätigen. Und dennoch ist es für mich ein schöner Ort – einer, an dem ich wundervolle Menschen kennenlernen, Erfahrungen sammeln und einen wahren Austausch erleben darf.

Bereits zum dritten Mal hatte ich Ende Mai am Kasseler Jugendsymposion teilgenommen. Für die Bewerbung brauchte es lediglich die Absprache mit den Lehrern, eine rechtzeitige Anmeldung und das Verfassen eines Essays zu einem der vorgegebenen Themen. Wobei der Essay zwar von einem Dozenten bewertet wird, letztlich jedoch viel mehr der Auseinandersetzung mit dem Thema dient. Und der Vorfreude! Denn man darf sich absolut sicher sein – die Veranstalter stellen ein Programm zusammen und bieten eine Auswahl an Seminaren und Trainings, die nur einen negativen Aspekt hat: Es ist alles so toll, dass man sich nur schwer entscheiden kann.

Linke Hand und rechte Hand

Meine Wahl fiel im Training auf »Grenzübertritte in der Kunst« bei Johannes Renzenbrink und beim Seminar auf »Der Linie auf der Spur« bei Gudrun Hofrichter. Insgesamt lag mein Schwerpunkt auf der Kunst. Doch hätte die Annäherung an das Thema kaum verschiedenartiger ausfallen können: War das Seminar von der Grenzsuche zwischen Architektur und Skulptur, zwischen Körper und Raum und von der Grenzsuche zwischen Gedanken und Ausdruck (anhand einer eigenen Collage) geprägt, so begegneten wir im Training unseren eigenen Grenzen. Zu malen, ohne dabei auf das Papier zu sehen, oder wie in der zweiten Übung, den Blick nicht vom Objekt zu wenden, erst recht nicht hin zur eigenen, zeichnenden Hand, war für mich neu und spannend. Am beeindruckendsten empfand ich die Erfahrung, der linken Hand die Führung über den Stift zu überlassen – und dabei deren verblüffende Zielstrebigkeit und Wiedergabefähigkeit zu entdecken. Es war, als wüsste meine linke Hand mehr über Annäherung, weil sie im Alltag noch nicht so oft dazu gedrängt wurde, und würde dies nun im Bildhaften sichtbar machen. Von nun an werde ich wohl häufiger als bisher die linke Hand einbeziehen. Nun aber sitze ich zum ersten Mal seit vier Tagen nur ruhig da und brauche auch meine Hände gerade nicht. Zum gleichmäßigen Rattern der Zugräder lausche ich meinen Gedanken statt einem klugen Kopf, der mir innerhalb eines Vortrags einen spezifischen Aspekt von »Grenze« näher­bringt. Es ist schön, das alles in mir sacken zu lassen. Und als hätten sie bereits die Gefühls- und Gedankenebene verlassen, spüre ich all die Eindrücke in manifestierter Form langsam mein Inneres durchfließen. Und dann ist da so viel an Emotion und Gedankengut, dass sich kaum ein Gedanke wirklich zu Ende denken lässt.

Schuldig und unschuldig

So zum Beispiel in dem Vortrag von Reinhard Merkel, einem emeritierten Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, Mitglied im »Deutschen Ethikrat«, zum Thema »Ethische und rechtliche Grenzen staatlichen Handelns in Zeiten des Terrors«. Im Anschluss besuchten wir gemeinsam im Schauspielhaus Kassel die Aufführung des Justizdramas »Terror« von Ferdinand von Schirach und waren mit genau dem Thema des Vortrags konfrontiert: der Frage, ob die Insassen eines entführten Passagierflugzeugs durch Abschuss getötet werden dürfen, wenn damit weitere Unschuldige in größerer Anzahl gerettet werden könnten, weil der Angriff auf ein Objekt verhindert wird, in dem sich Letztere befinden. Rechtlich gesehen nein, erläuterte uns Professor Merkel. Im Stück jedoch erfuhr wohl jeder Einzelne von uns, wie schwierig es tatsächlich ist, Recht von Intuition zu trennen, oder die Intuition vom Gewissen.

Die Theaterinszenierung berief ein Gericht ein, um über die Schuld des Piloten zu beraten, der trotz mehrmaligen Gegenbefehls schließlich rechtswidrig handelte und das entführte Flugzeug und dessen Insassen abschoss. Wir als Publikum wurden als Schöffen angesprochen und waren aufgefordert, zum Ende aus dem Saal hinaus- und durch eine der entweder mit »schuldig« oder »unschuldig« gekennzeichneten Türen wieder einzutreten. Zwar war der zu beurteilende Fall nur fiktiv, doch wurde wohl selten in einem Theaterfoyer so stark diskutiert.

Welche Wahl man auch traf, man konnte nie allen Aspekten von Recht, Ethik, Politik und Philosophie gerecht werden und schließlich fühlte ich mich an die berühmte Frage nach dem Ursprung erinnert: War die Henne zuerst da oder das Ei, aus dem sie schlüpfte und welches sie wieder legen wird? Darf ein Mensch über das Leben anderer Menschen bestimmen, um wieder andere Menschen zu retten? Und dürfen wir diesen einzelnen Menschen für sein eigenverantwortetes Handeln verurteilen, anstatt zu sehen, dass keine seiner Entscheidungen die einwandfrei richtige hätte sein können?

Ich und Du

Fragen sind in jedem Fall ein wichtiger Teil von Grenzfindung – nicht nur derjenigen von Recht und Unrecht, auch von staatlich und privat, persönlich und gesellschaftlich, arm und reich, Ich und Du. Das Ich und Du haben wir auf diesem Symposion erfolgreich verbunden: Im Anschluss an das Theaterstück wollte sich kaum jemand von den Anderen trennen und in wachsenden Gruppen wurden noch bis spät in die Nacht die aufgeworfenen Fragen diskutiert. Das gilt auch für die allgemeine Stimmung auf den Jugendsymposien: Obwohl fast alle fremd füreinander sind, findet der Austausch vollkommen selbstverständlich statt und man kommt ins Gespräch, noch bevor der Name gefallen ist. Man kennt sich zwar nicht, aber man ist sich auch nicht fremd.

Durch einander miteinander

In ihrem Vortrag »Integration ist tot« griff Kübra Gümüsay, Journalistin, Bloggerin und Netzaktivistin, den Aspekt von Nähe und Distanz wieder auf. Sie sagte, nicht Integration sei der richtige Umgang für die vielen Menschen, die momentan nach Deutschland kommen, sondern Partizipation. Und dazu zähle das Teilen von Geschichten: »Wir müssen uns Geschichten erzählen, damit wir heute gemeinsam Geschichten leben und uns später zusammen erinnern können.« Im Abschlussplenum konnte eine Teilnehmerin auch durch ihre eigenen Erfahrungen auf dem Symposion diese Erkenntnis bestätigen. Sobald man eine Grenze sehe, finde Kommunikation statt, und darauf komme es an, sagte sie. Das sei der Sinn des Lebens: Die eigene Grenze zu suchen und zu erweitern.

Ich ertappe mich dabei, wie ich das mir unbekannte Mädchen im Zug offen anlächle, als es sich neben mich setzt. Ich habe wohl vergessen, dass sie nicht vom Jugendsymposion kommt. Doch sie lächelt zurück und es entwickelt sich ein Gespräch zwischen uns. Auf einmal ist es also möglich: Ich erzähle meine Geschichte, sie mir die ihrige. Ich erzähle vom Jugendsymposion, lasse meine ganze Freude ein weiteres Mal aufleben und stecke sie an mit meinem Gefühl. Und dann sitzen wir da – und erweitern durch einander miteinander unsere eigenen Grenzen.

Zur Autorin: Flora Sasz ist ehemalige Schülerin der Freien Waldorfschule Kiel