Im Strudel der Ökonomisierung

Valentin Hacken

Jaspar fuchtelt nachlässig mit der Hand, in der er seine Zigarette hält, vor meinem Gesicht. »Es geht denen doch nicht ernsthaft um die paar Bäume. So bigott kann man gar nicht sein, zuhause an seinem Eichenmassivholz-Tisch einen Volksaufstand anzuzetteln wegen ein paar Bäumen, die eine Waldorfschule in ein paar Jahren locker verbaut und die von einem Käfer bewohnt werden, der nach etwas klingt, auf das man öfters mal tritt.« Natürlich geht es nicht nur um die Bäume oder den Bahnhof – »der übrigens entsetzlich hässlich ist«, ruft Jaspar dazwischen –, es geht um die Frage, wer diesen neuen Bahnhof eigentlich will, wer das entscheidet und wer die Rechnung zahlt.

Mein Freund Jaspar fragt lauernd, ob ich jetzt auch »Wir sind das Volk« schreien werde und so tun, als drohten mir Bautzen und Diktatur. Oder ob ich neuerdings Geologe bin und erklären kann, warum zwar bisher die S-Bahn in Stuttgart fährt, der Bahntunnel aber die Apokalypse provozieren wird. Oder ob meine Matheschwäche mich so erblinden lässt, dass ich die Kostenverteilung zwischen Stadt, Land, Bund und EU nicht verstehe? Oder sei mir jedes Argument recht? Es gehe doch bei Stuttgart 21 nicht nur um einen Bahnhof, sondern um eine europäische Bahn-Magistrale, um die einmalige Chance zu einer Stadtentwicklung mit neuen Stadtvierteln durch die Umnutzung ehemaliger Gleisflächen, eine Anbindung an den Flughafen und Tausende von Arbeitsplätzen. Ein Projekt, das der eingekesselten Stadt Stuttgart die Möglichkeit zur Veränderung ohne massiven Eingriff in den Baubestand gebe. Ob ich mir nochmals die Luftbilder anschauen wolle, auf denen eindeutig zu sehen ist, wie immens viel

Fläche in Stuttgart frei werde? Ich habe nicht vor, mich am Protest gegen Stuttgart 21 zu beteiligen und stimme Jaspar zu, dass es für die Stadt ein sehr zukunftsträchtiges Projekt werden kann. Und dass viele derjenigen, die neuerdings ihre Liebe für den Bahnhofsarchitekten Paul Bonatz kultivieren, ihn vor wenigen Wochen noch nicht gekannt und den Bahnhof auch nicht für die Perle deutscher Architektur gehalten haben. Genauso wie es richtig ist, dass die Bahn Hunderte von Planern, weit mehr als dreißig Ingenieurbüros und Jahre der akribischen Vorbereitung investiert hat. Planung von Experten, nicht von Demonstranten.

An dem Streit um Stuttgart 21 sind Freundschaften zerbrochen

»Boshaftigkeit, das muss es sein. Die CDU will das Böse an sich«, versucht mich Jaspar zu provozieren. »Deswegen hätte sich Özdemir auch gar nicht entschuldigen müssen, als er Mappus vorwarf, dieser wolle Blut sehen.«

»Er hatte ganz sicher recht, als er fragte, warum die Polizei angehalten war, mit dieser Brutalität und schlechter Vorbereitung gegen Demonstranten, unter anderem auch Schüler und ältere Menschen, vorzugehen. Das ist mit den rechtsstaatlichen Aufträgen der Polizei nicht zu begründen«, rufe ich empört.

Empörung ist milde ausgedrückt für das, was in Stuttgart brodelt. Bei vielen ist es grenzenlose Wut, Verzweiflung und Betroffenheit. Bestens organisiert und unter vollem Einsatz hat sich eine schier unüberschaubare Protestbewegung gebildet, welche mit faszinierender Beharrlichkeit »oben bleiben« will. Freundschaften sind an dem Streit um Stuttgart 21 zerbrochen – neuerdings organisiert sich auch eine Pro-S21 Bewegung –, soziale Zusammenhänge sortieren sich neu entlang der Frage: dafür oder dagegen? Eltern, die ihre Kinder sonst vor jedem bösen Fernsehmonster beschützen, bringen sie auf Demonstrationen mit und Rentner kämpfen vereint mit Landesbankern, denen sie kurz zuvor noch ein frühzeitiges Fegefeuer wegen ihrer Anlagepapiere gewünscht hatten. Bei den großen Demonstrationen treffen alle Motivlagen zusammen, die der Ruf »Wir sind das Volk« eint. Um uns geht es und um euch da oben. – »Wir sind auch der Staat«, wirft mein Freund ein. »Wir sind auch die da oben. Wir haben sie gewählt! Mache doch keiner einem Parlament einen Vorwurf, weil es seine Arbeit tut und entscheidet.«

Legitime Verfahren sind keine Garantie für eine kluge Politik

Legitimität durch Verfahren bedeutet nicht für immer kluge Politik. Demokratie ist kein Glaubensbekenntnis sondern ein Verfahren zur Machtverteilung. Thomas Assheuer (DIE ZEIT) verweist in der Analyse von Politikverdrossenheit einerseits und Protest andererseits klugerweise nicht auf früher vermeintlich bessere Politik, sondern identifiziert die zunehmende Entparlamentisierung als Quelle der Unzufriedenheit.  Entscheidungen werden mit der Gesundheitslobby, AKW-Betreibern oder hinter den verschlossenen Türen von Parteispitzen getroffen. Ob Parlament oder Bürger, beide werden zunehmend vor vollendete Tatsachen gestellt. In jeder Frage und allerorten herrscht neuerdings ein Sachzwang. Der lässt zwar die Möglichkeit theoretisch zu, sich anders zu entscheiden – aber nicht verantwortungsvoll, denn es gibt keine Alternative. Das sagen gestandene Minister zu Vorlagen, über die noch nicht mal diskutiert wurde. Wenn absehbar wirklich Widerstände auftreten sollten, wird ein Vorhaben – wie die neuen Reisepässe – über den Ministerrat der EU beschlossen und das nationale Parlament steht wieder vor einem Sachzwang, nämlich dem, europäische Richtlinien zwingend in nationales Recht umzusetzen.

Dahinter steht oft die Angst, dass ohne die Autorität des Sachzwangs keine Entscheidungen mehr getroffen werden können. Und natürlich, niemand möchte das Debakel erleben, auf für den Bürger unangenehme Entscheidungen festgenagelt und nicht wieder gewählt zu werden. Deswegen gibt es keine Alternative.

Dennoch ist es rechtlich einwandfrei und demokratietheoretisch erstmal nicht anfechtbar, Stuttgart 21 über das Verfahren zu legitimieren. Auch der Verweis auf die Wichtigkeit von Planungssicherheit und die Einhaltung geschlossener Verträge steht außer Zweifel. Keines dieser Argumente entmündigt jedoch die Bürger. Das Recht auf freie Rede steht einem zu – auch »wenn man Schwachsinn reden will«, unterbricht mich Jaspar, »oder wenn man über lange Zeit verfolgte Entscheidungen von Parlamenten kritisieren will. Die schiere Möglichkeit eines Protestes erklärt diesen noch lange nicht! Den Stuttgartern droht weder die Verarmung noch sonst ein großes Unheil. Im Gegenteil, es steht das Angebot, viel Geld in diese Stadt zu pumpen. Die Stuttgarter könnten auch mitgestalten. Der Architekt des geplanten Neubaus, Christoph Ingenhoven sagt treffend: »Die Moderne ist eine Haltung.« Architektur ist eine Kulturleistung, so viel habe ich mir dann aus den letzten Jahren Kunstunterricht auch bewahrt.

Eine Moderne des Höher, Schneller, Weiter

Aber von welcher Moderne spricht denn Ingenhoven? Von dem Versprechen, dass die Züge noch schneller fahren, die Gebäude noch sensationeller werden und noch mehr geht? Ein Merkmal der Moderne, darauf weist auch Assheuer hin, ist die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Alles geht noch schneller und gleichzeitiger und effektiver. Der Zwang, das Leben als Kosten-Nutzen-Analyse zu gestalten, fällt zudem auch noch in eine Zeit permanenter, erlebbarer Veränderung. Nicht, dass die Welt je über längere Zeit stillgestanden wäre. Doch die Taktung vermeintlicher oder real tiefgreifender Veränderungen wird immer enger. Wir reagieren mit Innovationen und Reformen, versuchen schneller als unsere Uhr zu laufen. Kriege, Schweinegrippe, Wirtschaftskrisen, alles ist überall und gleichzeitig und vieles straft bisher bekannte Annahmen Lüge, erschüttert das Vertrauen in die Begreifbarkeit und Ordnung der Welt, in der wir uns einzurichten versuchen. Diese Moderne ist keine Haltung, sondern sie wird als Druck empfunden, der in allererster Linie Schmerz und Angst verursacht.

Zurecht fragen sich Demonstranten, was einige Minuten Zeitersparnis auf einer Zugstrecke real an Kosten wert sind. Was dieses Höher, Größer, Schneller mit ihnen zu tun hat. Wann sie eigentlich verlangt haben, dass alles um sie herum aus den Fugen gerät. Die ökonomische Welt fragt nicht danach, was richtig und was falsch ist. Gut und Böse sind ihr anachronistische Kategorien. Doch ihre Begrenztheit hat sich in den letzten Jahren spektakulär beobachten lassen. Rankings nach vermeintlichem Nutzen zur Beurteilung der Frage tun oder lassen? haben sich in etwa als so geeignet gezeigt, wie ein Hammer zum Geige spielen.

Die Moderne ist also nicht per se eine Haltung, sondern sie benötigt Haltung. Sie benötigt Ideale, Visionen, Utopien. Ohne Ziel keine Richtung und ohne Richtung Beliebigkeit. Doch diese Beliebigkeit ist das Gegenteil von Freiheit. Mit der Überwindung von Utopien und den Glauben an eine durchökonomisierte Welt (die by the way dann auch nach dem Schema survival of the fittest organisiert ist) bewegt sich der Mensch unvorstellbar weit weg von sich selbst und dem, was ihn ausmacht.

Das Leiden an einer durchökonomisierten Welt lässt sich herausschreien

Dass es dafür ein Empfinden gibt, zeigt der Protest gegen Stuttgart 21. Hier streitet man, nicht weil die Sachfrage so brisant ist, sondern weil etwas anderes greifbar wird: Die abenteuerliche Gleichzeitigkeit von Vorgängen wie beispielsweise der Milliardeninvestitionen in einen Bahnhof und des zur selben Zeit fehlenden Geldes für die Schulen. Diesem Irrwitz kann hier und jetzt scheinbar ein Ende bereitet werden. Gegen die Milliarden für die Banken konnte nicht groß demonstriert werden – über Nacht hatte die Regierung sie verteilt; die Laufzeitenverlängerung für AKWs war plötzlich da, aber hier will man nun retten, was noch zu retten ist.

Der Schmerz einer modernen Welt voller widersprüchlicher Gleichzeitigkeiten, einer Welt voller Sachzwänge, fehlender Alternativen, nicht vorhandener Ideen und ökonomischer Optimierungszwänge, der lässt sich hier herauschreien, beweinen und auf Plakate schreiben.

Wer dem mit Hochmut begegnet und trocken eine Kandidatur für den Landtag empfiehlt, hat offenbar kein großes Interesse an der Frage, wie wir in Deutschland im 21. Jahrhundert eigentlich miteinander leben wollen. Bürger sind grundsätzlich ernst zu nehmen. Dies begründet sich nicht durch die Sinnhaftigkeit ihrer Anliegen, sondern durch unsere Staatsform. »Wie sinnvoll Stuttgart 21 nun also ist, wird sich hoffentlich nach der Schlichtung zeigen. Aber die noch spannenderen Fragen kommen dann erst. Wie wollen wir heute gemeinsam leben und das organisieren? Verlassen wir uns darauf, dass unsere Demokratie perfekt für alle Zeiten ist oder suchen wir auch hier nach Erneuerung? Wie definieren wir uns als Gesellschaft im immer noch jungen, neuen Jahrtausend?«, frage ich Jaspar.

Doch Jaspar, mein fiktiver Freund, hat sich aufgelöst und es bleibt nur ein kleines Brandloch im Zeitungsstapel. – Und immer noch die Frage: Wie wollen wir leben?