In Deinem Sehen sehe ich mich

Ylva Steinberg

Es kommen 250 Schüler und Ex-Schüler aus ganz Deutschland, manche sogar aus den Niederlanden. Einige kennen sich von den letzten Symposien, andere sind neu, doch rasch sind Kontakte geknüpft.

Das Kasseler Jugendsymposion bietet zweimal im Jahr einen Raum, in dem Schüler ab der Oberstufe ehrliche, ernst gemeinte, geistes- und naturwissenschaftliche und durch das eigene Erleben fundierte Fragen stellen und Antworten geben können. Hier begegnet man vier Tage lang Gleichgesinnten mit vielen unkonventionellen Ansichten über unsere Möglichkeiten und Aufgaben als Menschen. Führende Vertreter verschiedener Disziplinen – Wissenschaftler, Projektleiter oder Autoren – sind als Redner geladen. Die Auseinandersetzung ist persönlich, die Fragen sind brisant, die Begegnungen intensiv. Nicht selten entstehen daraus langjährige Freundschaften.

Wilfried Sommer, tätig an der Alanus Hochschule und am Lehrerseminar Kassel, entwickelte eingangs eine gemeinsame Begrifflichkeit, die sich wie ein roter Faden durch das Symposion zog: Die Qualität der Liebe ist für ihre Definition entscheidend. So einigten wir uns auf dies: Die Liebe gibt dem Gegenüber Raum und sieht seine höchsten Potenziale, während sie zugleich die Unergründlichkeit und Verletzlichkeit des Liebenden offenbart: Ich sehe Dich und sehe, dass Du mich siehst; und dass Du mich meinst mit Deinem Blick.

Wir bewegten essenzielle Fragen: Ist Liebe eine die Welt durchdringende Kraft, eine Fähigkeit oder gar eine Tätigkeit? Wo fängt Liebe an und wo hört sie auf? Liebt eine Pflanze, die sich zur Sonne wendet? Gibt es die eine Liebe oder nur verschiedene Aspekte von ihr? Ab welchem Punkt in seiner Entwicklung »verdient« ein menschliches Wesen Liebe? Kann Liebe überhaupt bedingt sein und kann ich bedingungslos lieben? Welche Rolle spielt Sexualität? Endet meine Freiheit, wo die des Partners anfängt? Das wirklich spannende sind nicht die Antworten, sondern das Umgehen mit diesen Fragen, in dem sich die Teilnehmer begegnen! Es geht mehr um das Erleben und Teilen dieser Fragen, um Diskussionen mit erfahrenen Menschen auf Augenhöhe und um die Energie und den Anstoß, den sie geben, als um fertige Antworten.

Die diskutierten Inhalte wurden in verschiedensten Workshops praktisch begleitet und verarbeitet: In Bildern, beim Paartanz, beim freien Tanz, in Gesang, Poesie und Kommunikationsübungen durchlebten wir verschiedene Bedeutungen der Liebe und die mit ihr verbundenen Emotionen wie Freude, Wut und Trauer. Im Workshop »Körperkino« entwickelte sich zum Beispiel aus Übungen aus dem zeitgenössischen Tanz eine utopisch anmutende Bewegungswelt voller freier, liebevoller Begegnung. Nach so einer Stunde mussten wir erst einmal wieder aufwachen, um die gewonnenen Erfahrungen aus dem Raum tragen zu können.

In den Pausen war Gelegenheit, sich mit alten und neuen Freunden, den Vortragsrednern, Seminarleitern oder einem anderen spannenden Gegenüber auszutauschen. Bis in die Nacht hinein wurde diskutiert, gesungen oder musiziert. Manche wollten einfach nur ausgelassen tanzen. Alles Wichtige aus dem Kopf kommt in die Glieder, die todmüde ins Bett fallen. Das Jetzt ist wichtiger.

Mechtild Oltmann-Wendenburg, Pfarrerin der Christengemeinschaft, bündelte die Stränge des Symposions in wohltuender Weise. Die vielen isolierten und damit frustrierenden Einzelaspekte zum Beispiel aus evolutionsbiologischer oder paartherapeutischer Sicht – »Liebe ist ein reines Vehikel des Fort- pflanzungsdranges und die Männchen haben Monogamie erfunden, weil der Partnerinnenwechsel zu anstrengend wurde« versus »In der Konsumgesellschaft sind wir durch Angst gesteuert, die es in Beziehungen aufzulösen gilt« – verband sie zu einem reichen Gesamtbild.

Der Abschied von neuen Freunden und der einzigartigen Atmosphäre fiel schwer. Die Fragen sind noch drängender als vorher, jedoch haben wir auch Mut gewonnen, die Fragen selbst zu leben. Das Symposion scheint selbst seine Teilnehmer zu lieben. Es bietet Raum für wirkliche Begegnung und sieht uns als Persönlichkeiten in der Gegenwart voller Entfaltungspotenzial.

Zur Autorin: Ylva Steinberg war Waldorfschülerin und studiert Psychologie an der Humboldt-Universität in Berlin.

Das nächste, 14. KASSELER JUGENDSYMPOSION wird vom 26.- 29. Mai 2016 zum hochaktuellen Thema »Grenze« tagen. Das 15. KASSELER JUGENDSYMPOSION findet vom 8.-11. Dezember 2016 zu dem Thema »Identität« statt.

www.jugendsymposion.de