Klassenzimmer

Lässt sich aus der Individualität ein Sinn für Gemeinschaft ableiten?

Theresa Seiffert

Soziale Not und Krisen machen darauf aufmerksam, dass ein intensives und zu stark auf das eigene Ich gerichtetes Weltbild in keiner Weise hilfreich für ein soziales Miteinander unter Menschen ist. Meines Erachtens wird jedoch das Ichbewusstsein mit dem Egoismus verwechselt, einfach nur, weil beides auf das Ich bezogen wird.

Georg Herbert Mead stellte ebenso wie Sigmund Freud ein Identitätskonzept auf, in dem der Aspekt des Ausgleichs zwischen Impuls, Denken und Handeln gegeben ist. Meiner Ansicht nach lässt ein mangelnder Ausgleich zwischen den genannten Ebenen ein Verhalten aufkommen, mit dem die Egozentriertheit begründet werden kann. Der »zu sehr auf das Selbst gerichtete Blick« lässt vergessen, dass wir nicht allein existieren, sondern in Verhältnissen leben, die auf dem Miteinander beruhen. Egoismus wirkt konträr zum sensus communis und sollte nicht mit einem gemeinwohlorientierten Verständnis von Individualität verwechselt werden.

Die Vermischung von Individuen in der Gemeinschaft

Das Vermischen von Schwarz und Weiß wird auf einer Leinwand zu Grau. Ist das Vermengen zu einem Neuen übertragbar auf das Miteinander von Individuen? Jeder Pinselstrich symbolisiert ein Individuum, das sich als Individualität versteht. Zwangsläufig werden sie sich überschneiden oder gar überlagern, in manchen Punkten übereinstimmen. Natürlich liegt bei einem Individuum fest, dass es um mich selbst geht. Ich denke jedoch, dass es unvermeidbar ist, beim Kontakt mit anderen Menschen – ob freiwillig oder unfreiwillig – Empathie aufzubauen, die Gemeinsinn ermöglicht. Repräsentiert durch die Bildung von Grau aus zwei gegensätzlichen, unbunten Farben wird in meinen Augen der Gemeinsinn, ohne den die neue Farbe nicht entstehen würde. Es könnte sogar eher noch vom Zusammenschluss von Individuen zu einer Gesamtheit gesprochen werden. Das Überlagern der Farben lässt sich mit der Verbindung zwischen Menschen vergleichen – in gewissem Sinn Empathie. Die Entwicklung von Schwarz und Weiß zu Grau symbolisiert das aktive Miteinandersein und -denken, das von der Individualität zur Gemeinschaft führt. Das »Aufeinander-Eingehen, Akzeptieren und Interagieren« im Sinne des Gemeinwohls oder gemeinsamen Interesses.

In meinen Augen brauchen Menschen erst einmal das eigene Ich, um dann mit der Zeit Kontakt zu anderen aufzubauen. Es ist wichtig, einen Eindruck von der eigenen Identität zu haben – das eigene Verhalten einschätzen zu können. Ich meine nicht, dass ein genaues Selbstbild vollständig gegeben sein muss. Ich denke jedoch, dass es hilfreich dafür ist, die Aufmerksamkeit mehr auf andere richten zu können, da der Fokus weniger auf einem selbst liegt (die Gedanken und Empfindungen bleiben nicht am eigenen Verhalten hängen, wenn ein Individuum sich seiner bereits bewusst ist). Das Empfinden kann auf die Mitmenschen gerichtet werden, ein Sinn für die Gemeinschaft kann entstehen.

Sehen und Nichtsehen

Es gibt Situationen, in denen ich mit Menschen zusammen bin, und in denen ich mich aber persönlich nicht »sehe«. Ich habe dann nicht meine Stärken, Interessen, Gedanken und Erlebnisse vor Augen, sondern empfinde mich nur als Angehörige einer Gruppe oder Masse von Menschen. Nicht als selbstständige Person, als Individuum, sondern in der Menge untergehend. In einer solchen Situation ist es für mich nicht möglich, irgendwelche Ähnlichkeiten oder gemeinsame Interessen mit anderen zu finden, da ich selber keine Ahnung habe, was ich will oder wer ich bin. Genauso kann ich kein Interesse am Gegenüber finden oder gar Empathie aufbauen.

Interferenzen

Ein weiteres Bild, das ich mit der Ableitung des sensus communis von der Individualität in Verbindung bringe, ist die Struktur eines Interferenzmusters. Darauf gebracht hat mich vor Jahren eine Klassenkameradin, als sie mir erläuterte, warum es nicht schlimm sei, wenn man sich nicht mit allen Menschen gut verstehe. Sie meinte, jedes Individuum sei eine Linie, die sich ihren Weg durch das Leben in Wellenform bahne. An manchen Punkten berühren oder schneiden sich die Linien und das sind jene Punkte im Leben, an denen die Begegnung mit Menschen beginnt. Manche Wellen begegnen sich und verlaufen dann lange Zeit in einem ähnlichen Muster, bei manchen trennen sich die Wege nach kurzer Dauer wieder und andere begegnen sich gar nicht. Ich denke, dass die Schnittpunkte nicht nur jene sind, an denen wir Menschen begegnen. Es sind zusätzlich auch die Momente, in denen sich Empathie im Sinne eines gegenseitigen Wahrnehmens und Interesses bildet – in denen Verbundenheit entsteht.

Das gleichmäßige Muster der Interferenzwellen symbolisiert für mich den sensus communis. Die verbindenden Linien stellen ein durchgängiges Ganzes dar, einen Zusammenschluss von Individuen, die mit ihrem Sinn für Gemeinschaft das Wohlergehen aller ermöglichen können.

Der Gemeinsinn, die Bereitschaft, sich als Individuum für ein gemeines Wohl einzusetzen, lässt sich nur im Zusammenwirken mit anderen verwirklichen. Individualität ist meines Erachtens notwendig für den Gemeinsinn. Dennoch ist der auf das Individuum gerichtete Fokus als Leitidee nicht richtig. Vielmehr ist das Zusammenwirken einer Gemeinschaft erstrebenswert.

Es mag einfach erscheinen, und in meinen Augen ist es das definitiv, sich seinen Weg allein zu bahnen. Es ist auch gerechtfertigt, dieses Empfinden auszuleben. Gleichzeitig denke ich, besteht neben dem positiven Effekt des Austretens aus der Komfortzone nicht nur ein Gewinn für andere Mitwirkende, wenn man sich darauf einlässt, ein Gemeinwohl zu vertreten, sondern auch für das Individuum selbst.

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.