Minidrama: 2084-SOCIALDISTANCING

Luisa Schwinger

Wir befinden uns im Jahr 2084 und im Mittelpunkt dieser Zeit steht ein 80-jähriger Mann namens George. Außerdem gibt es noch seinen persönlichen Medienmanager, der immer nur auf einem Bildschirm erscheint und zwei Sicherheitsbeauftragte Roboter George ist wohl der letzte Zeitzeuge aus einer Vergangenheit, in der sich Menschen der Gefahr der Außenwelt und der des körperlichen Kontaktes zu anderen Menschen ausgesetzt haben. 

1. Akt

Das Minidrama beginnt im Dschungel von Papua-Neuguinea: George sieht zwei Roboter auf sich zukommen und weiß im selben Moment, dass die Gegenwart nun auch ihn erreicht hat. In einem inneren Monolog blickt er auf sein bisheriges Leben zurück.

George: »Vor 61 Jahren bin ich untergetaucht. Ich war mit der Schule fertig und wollte meine Freiheit genießen, doch dann erreichte auch uns das Virus. Angst und Schrecken wurde verbreitet und jegliche Errungenschaften der Demokratie wurden über Bord geworfen. Die Regierung konnte im Alleingang Entscheidungen fällen und die Bevölkerung nahm alles dankbar hin. Kaum jemand zweifelte an einer Maßnahme, die Panik war zu groß.

Ich habe mich damals gefragt, woher dieses Virus kommt und wer evtl. einen Nutzen daran hätte. Es ist mir bis heute nicht klar geworden.

(George lässt seinen Blick schweifen)

Wenn es tatsächlich von den Tieren, die damals auf dem Markt in Wuhan verkauft und gegessen wurden, übertragen worden ist und sich in diesen Menschenmassen dann so schnell verbreitet hat, war es vielleicht das, was passieren musste, damit die Menschheit begreift, dass man mit Geld alles kaufen kann, außer der eigenen Gesundheit.

(dieses Thema scheint ihn noch in Rage zu bringen)

Ja, damals war ich auf vielen Demos, habe für meine Rechte gekämpft und verloren. Depressionen haben diese Zeit geprägt, ich war wie gefangen, bis ich untergetaucht bin. Gut 60 Jahre ist es jetzt her, dass ich mich für mein Leben entschieden habe. Auf jahrelangen Umwegen bin ich hierher gelangt, in die Freiheit dieses Dschungels. Ich hatte nichts mehr, doch ich war glücklich.

Und jetzt soll das alles vorbei sein?

(er schaut zu den Robotern)

Was wollen diese Roboter hier? Soll ich weglaufen? Das hätte wohl keinen Sinn.«

So wird er wenig später von den Robotern und damit auch von der Gegenwart erreicht.

Roboter1: »Wir sind Sicherheitsbeauftragte und wir sind hier, um sie auf dem Weg in die Sicherheit zu beschützen.«

2. Akt

George weiß, dass er nichts gegen diese Roboter und noch viel weniger gegen das sich dahinter befindliche System ausrichten kann und geht mit. Abgesehen davon ist er auch etwas neugierig auf die Gesellschaft.

George: (hoffnungsvoll) »Vielleicht hat sich ja noch einmal alles zum Guten gewendet.«

Nach kurzer Zeit steigen sie eine Treppe hinunter und betreten ein Labyrinth aus Tunneln, an dessen linken und rechten Seite sich Türen aneinanderreihen und Gänge abzweigen. Vor einer dieser Türen bleiben sie stehen. Einer der Roboter öffnet sie. George tritt hindurch und blickt in einen weiß gestrichenen Raum, in dem sich neben einem Bett und einem eingerichteten Arbeitsplatz alle möglichen Geräte und Bildschirme befinden. In einer Ecke, etwas abgetrennt, entdeckt er ein Badezimmer.

Die Sicherheitsbeauftragten schließen die Tür hinter ihm. Von innen ist nicht mehr auszumachen, wo sich die Tür befunden hat. Die Neugierde, seine neue Umgebung zu begutachten, übertönt im ersten Moment das aufkommende Gefühl der Gefangenschaft.

Er kann sich jedoch kaum umsehen, da erscheint schon auf einem der Bildschirme das Gesicht einer jungen Person. Sie spricht wirres Zeug und gestikuliert wild mit ihren Händen. Es tauchen alle möglichen Bilder von ebensolchen Räumen auf. Riesige Bildschirme, perfekt ausgestattete Labore, unzählige Menschen, doch pro Raum immer nur einer. Das Gesicht des Sprechers rückt wieder in den Vordergrund:

P. Mm.: »Guten Tag, ich bin ihr persönlicher Medienmanager. Als künstliche Intelligenz hat man mich so programmiert, dass ich mich genau an ihre Bedürfnisse anpassen kann. Ich informiere sie jeden Tag über die wichtigsten Vorkommnisse dieser Welt und organisiere ihren Alltag. Da sie sehr lange abwesend waren, werde ich sie über alles wichtige aufklären. Wir haben das Jahr 2084. Sie befinden sich jetzt in Sicherheit. Wir sind froh sie gerettet zu haben. Den Gefahren über uns sollte sich keiner aussetzen müssen.«

George: »Wo bin ich hier?«

P. Mm.: »Sie befinden sich wieder in der Gesellschaft. In diesem Raum haben sie alles, was sie zum Leben benötigen. Der Nährstoffautomat wird sie mit den nötigen Nährstoffen versorgen. Sie werden von jetzt an sehr viele Mediengespräche haben, da sie wohl der letzte noch Lebenden aus dieser schrecklich gefährlichen Vergangenheit sind. Ich habe diese Gespräche bereits für sie vorbereitet. Die Manuskripte finden sie in einem Ordner auf ihrem Schreibtisch. Das Passwort lautet: Angst.«

George: »Was ist mit all den anderen Menschen aus meiner Generation passiert?«

P. Mm.: »Die meisten haben irgendwann die Sicherheit des Todes der Sicherheit unseres Systems vorgezogen. Sie haben uns viel Material geliefert, wodurch wir die Gentechnik ein großes Stück voranbringen konnten. Wir haben die DNA vollständig entschlüsselt und so optimiert, dass die Menschen keine Zeit mehr verschwenden. Heutzutage vollenden die sie ihre Leben in einem viel effektiveren Zeitplan.

Es gibt zudem nur noch ein Geschlecht, das von uns produziert wird. Die produzierenden Labore werden von Robotern geführt. Ist der Embryo aus dem Reagenzglas herausgewachsen, kommt er ebenfalls in eine solche Wohnung. Er wird von einem Roboter betreut, bis er für sich selbst sorgen kann.«

George: (mehr zu sich selbst als zu der KI auf dem Bildschirm)

»Die Menschheit hat sich entwickelt und den Fortschritt gebracht und nun entwickelt dieser Fortschritt die Menschheit.«

P. Mm.: (fährt unbeirrt fort)

Laut Berichten aus der Zeit der Corona-Pandemie der 20er Jahre, sollen die Menschen damals in sogenannten …

(scheint das ganze System nach dem Wort durchsuchen zu müssen)

… Familien zusammengewohnt haben. Heute vermeiden wir aus Gesundheitsgründen jeglichen Körperkontakt, da diese Viren mittlerweile so tödlich sind, dass Social Distancing die Erlösung der Menschheit und die Rettung der Natur zugleich war. Die Welt ist globaler denn je. Jeder kann mit jedem kommunizieren, ohne sich auch nur einen Zentimeter bewegen zu müssen. Eine phantastische Entwicklung!

Aber nun zu ihnen: ihr Alltag beginnt morgen früh um 7 Uhr. Sie erhalten ihre Nährstoffe, die sie in der angegebenen Reihenfolge einnehmen.

Währenddessen werde ich sie über das Weltgeschehen informieren.«

(George fühlt sich immer unwohler)

3. Akt

In den folgenden Tagen und Wochen kommt George mit allen möglichen Menschen in Kontakt. Eine Sache sticht ihm bei all diesen Personen besonders ins Auge: Keiner dieser Menschen wirkt wirklich glücklich. Die meisten sind morgens extrem gut aufgelegt und fallen dann ganz plötzlich in eine tiefe Depression. Auch er selbst leidet unter diesen Depressionsanfällen. Alle waren sie manisch-depressiv, doch aus welchem Grund?

George: »Es ist die Einsamkeit. Dafür sind wir Menschen nicht gemacht. Wir brauchen Liebe und Nähe, genau wie Nahrung. Ohne das verkümmern wir. Die Ladung Drogen, die in den Nährstoffen enthalten ist, kann das auch nicht ausgleichen. Die Selbstmordrate ist höher denn je, doch die allermeisten sterben bereits in der Produktion. Wie haben wir es soweit kommen lassen können? Social Distancing schützt die Menschen nicht vor dem Sterben, sondern davor zu leben, zu lieben und geliebt zu werden.

(entschlossen)

Ich werde alles dafür tun, um wieder Liebe in diese Welt zu bringen!«

4. Akt

In Interviews spricht er über Liebe und Empathie. Diese Worte gibt es nicht mehr, doch durch die Beschreibung wird er von den Menschen verstanden. Die künstliche Intelligenz hingegen, die alles überwacht, kann seine Reden nicht entschlüsseln.

George nimmt die Veränderung in den Menschen wahr, während er selbst immer schwächer wird. Bald ist klar, dass Liebe in einem solchen System keinen Platz hat und eine gesunde Menschheit damit ebenfalls nicht. Doch das System braucht die Menschen für seinen Erhalt, ohne sie wäre es am Ende.

5. Akt

George spricht zu den Menschen und für die Menschen, die selbst nicht mehr dazu in der Lage sind und trifft eine alles verändernde Entscheidung.

George: »Wir wollen einem solchen System nicht länger als Grundlage dienen, also tun wir was nötig ist, um ihm den Boden unter den Füßen wegzureißen.«

Nach diesen letzten Worten an die Menschheit, kehrt er noch ein letztes Mal zu sich zurück:

George: »Ich hatte ein gutes Leben, doch diese Menschen hatten das nicht und werden es auch nie haben. Wir haben uns in der Vergangenheit durch unseren Wunsch nach Sicherheit unser eigenes Grab geschaufelt. Wir haben einst den technischen Fortschritt gebracht und uns zu seinen Sklaven gemacht, denn dieser Fortschritt hat durch seine Intelligenz die Macht über unser gesundheitssicherndes System übernommen.

(steckt alle Kraft, die er noch hat, in diesen letzten Satz)

Nun wird es mit uns untergehen und Platz für eine bessere Welt schaffen!«

(ein beinahe wahnsinniges Grinsen, dann bricht er zusammen)

Das System berichtet von einem Allgemeinen Freitod – dann wird alles still …


Das Minidrama »Social distancing« produzierte Luisa Schwinger im Rahmen einer Deutschepoche der 11. Klasse an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe Stuttgart.

(Regieanweisung) / (Erzähler) / (Text)