Geschichte

Mir gehen die Bilder nicht aus dem Kopf

Jette Lorenz
Foto: © Herwig-Müller

In Bergen-Belsen befand sich von 1940 bis 1945 ein 55 Hektar großes Konzentrationslager, in dem 52.000 Kriegsgefangene, Menschen jüdischen Glaubens, Homosexuelle sowie Sinti und Roma aufgrund von Überarbeitung, Kälte, Unterernährung, Krankheit und Mord starben. 

Rund drei Stunden verbrachten wir auf dem Gelände. Wir besuchten das Dokumentationszentrum, in dem zahlreiche Dokumente, Originalfotos, Zeitzeugenberichte und historisches Hintergrundwissen aufbereitet wurden. Danach besichtigten wir gruppenweise das Gelände der Gedenkstätte, auf dem sich heute noch einige Massengräber und Denkmale befinden, die an das Leid von damals erinnern. Auch vor einem Denkmal zur Erinnerung an Anne Frank blieben wir stehen, welche hier ums Leben gekommen ist. Diesen Besuch werde ich niemals vergessen.

Mir ist schlecht, als ich das hohe, graue Gemäuer des Dokumentationszentrums verlasse. 

Der Blick auf die weite Fläche, vom vertrockneten Gras gelb verfärbt, wirkt surreal. 

Das Gelände scheint riesig, aber angesichts der vielen tausend Menschen, die hier gelebt haben, und der vielen tausend Menschen, die hier gestorben sind, ist es winzig. Nur die Kuhlen im Boden lassen erahnen, dass hier einmal etwas gestanden hat. Kuhlen auf der einen Seite, Hügel auf der anderen, in denen laut Inschrift der vor ihnen liegenden Steine so viele tote Menschen »ruhen«, wie ich mit bloßen Augen nicht zählen könnte. Mir gehen die Bilder nicht aus dem Kopf von den nackten, in sich zusammengefallenen Körpern, in diesem letzten der Würde beraubten Stadium menschlichen Daseins.

Diese Fotos vorhin waren härter als jeder Horrorfilm, den ich je gesehen habe. Ich frage mich mittlerweile, warum man sich eigentlich freiwillig diesen Horror in einem Film gibt. Die Gesichter der Menschen, schwarz-weiß auf gelbem Papier, die genau wussten, dass sie in ein paar Tagen in dieser Grube liegen könnten, lassen mich daran zweifeln, ob ich jemals zuvor schon wahres Leid so wahrhaftig in Mimik gesehen habe.

Die Geschichten, die ich gerade gehört habe, übersteigen meine Vorstellungskraft. Drei Jahre lang nicht duschen. Sich höchstens mit Suppenwasser waschen. Und ich gehe nach dem Museumsgang wie selbstverständlich zum WC und wasche mir meine Hände. Mit Seife. Ich wasche meine Hände, doch schaffe es nicht, das klebrige Gefühl loszuwerden, das sich mit all den Eindrücken an einem festhält. Mich lassen die Fragen nicht los, die ich schon hierher mitgebracht habe – noch viel mehr Fragen werde ich wieder mitnehmen. Was bedeutet die Vergangenheit unseres Landes, unserer Familien, für uns heute? Wie gehen wir mit dem Wissen um all das geschehene Leid um? Was können wir tun, damit wir niemals selbst verantwortlich für solche Grausamkeiten werden? Die anderen bezeichnen diese Vergangenheit als surreal – aber für mich machen die Eindrücke von heute alles nur realer. Real, dass Menschen Grausames getan haben und noch heute tun. Die Angst, dass sie es auch immer weiter tun werden. Und die Hoffnung, dass wir es ändern können. Zuhause werde ich auf die Straße gehen und Stolpersteine putzen.

Und dann stehe ich vor dem Paradox: auf der einen Seite des Zauns, der Gedenkstätte, während ein lauter Knall auf der anderen Seite mich aus meinen Gedanken reißt … und ich das Schild lese, das mir verbietet, weiterzugehen, weil sich dort militärisches Sperrgebiet befindet. Ich bekomme es in meinem Kopf einfach nicht zusammen, dass direkt neben einem Mahnmal, wo früher Menschen erschossen wurden, andere Menschen lernen, zu schießen.

Während ich nun durch die beklemmende Stille, durch die so fehl am Platz scheinenden, wunderschönen Kiefernwälder gehe, sagt mir mein Magen, er habe Hunger. Aber meinem Kopf ist schlecht.

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