Nahaufnahme

Nele Peter

Das Licht wird in warmen Farben vom Kiefernholz reflektiert und lässt das Schwedenblond des Kindes noch heller strahlen. Der Blick muss, vor der schützenden Geste der Hände, zum Fenster gerichtet worden sein. Nun möchte es nichts mehr sehen von der Welt. Den Grund erzählt das Bild nicht. Der Moment ist festgehalten worden und wird in der Welt nie wieder Bedeutung haben. Er ist vergangen.

Das Mädchen ist seit diesem Augenblick nur noch ein paar Mal in diesem Haus gewesen, in dem ihr Vater wohnt. Inzwischen eine junge Frau, ist sie damit beschäftigt, ihren Facebook-Account zu optimieren und textlich wie bildlich auf ihr Image abzustimmen, Bubble-tea zu trinken und »Schule hinzukriegen«. Doch mit jeder Schattierung, die auf dem Papier erscheint, rückt der Augenblick weiter in die Gegenwart. Lässt mich den Duft des Nadelholzes riechen, die Geräusche des Hauses hören, das warme Licht sehen, den Augenblick wiedererleben. Er hat wieder eine Bedeutung. Lässt mich an das Mädchen denken, das meine Schwester ist. Lässt mich an meine Kindheit denken. Und lässt mich wieder los. Er ist zum letzten Mal Gegenwart.

Es ist ein altes Negativ, dessen Bild sich auf einer Photoemulsion, bestehend aus Gelatine mit eingebettetem Silberbromid als dünne Schicht auf einem Papier befand. Die Hydrochenin-Lösung reagiert auf belichtete und unbelichtete Silberbromid- und Silberhalogenidkristalle unterschiedlich. Sie oxidiert und gibt Elektronen an die Silberionen des Papiers ab. So entstehen Bilder und Erinnerungen werden wach, lassen an die Kindheit, an die Schwester denken. – Ich beschäftige mich in meiner Jahresarbeit mit der analogen Photographie.

Staubtrockenes Handwerk

Völlig ahnungslos besorgte ich das Zubehör für die Dunkelkammer im heimischen Keller. Durch einen glücklichen Zufall fiel mir eine Kamera in die Hände, mit der ich seitdem arbeite: eine EXA 1c aus den 1980er Jahren.

Nun begann der schwierigste Teil des Projektes: Das Erlernen der Grundlagen. Durch peinlich genaues Anlegen von Listen, in die ich die Parameter notierte, die bei dem Schuss eines Photos vorhanden waren (Wetter, Objektiv, Belichtungszeiten, Film, Blende). Dadurch konnte ich im Nachhinein die Gründe für gelungene und weniger gelungene Bilder nachvollziehen. Ich tastete mich langsam voran. Auf der ersten Stufe der Arbeit lernte ich die Funktion der Kamera verstehen und konnte mit ihr selbstverständlicher umgehen. Von Kunst oder experimentellen Ausschweifungen konnte hier noch keine Rede sein. Mein Tun war pure Buchhaltung, Struktur und staubtrockenes Handwerk. Mein Nostalgiker-Gemüt saß gelangweilt und etwas enttäuscht über der Technik aus den 1980er Jahren und der analogen Theorie und wollte, analog dazu, theoretisch schon aufgeben. Doch mit wachsender technischer Sicherheit und den daraus resultierenden ersten Erfolgen war es wieder zufriedengestellt und schwelgte weiter. Eine weitere Hürde bestand darin, die Unerreichbarkeit meiner Ideale (Peter Lindt, Nicola Perscheid) anzuerkennen. Sie brachten mich zwar zur Photographie, in dieser Phase fungierten sie jedoch eher als Einschüchterung, denn als Motivation, musste ich mich doch mit hart erkämpften und errechneten Erfolgen zufrieden geben. Ich löste mich also von meinen Inspirationen, um auf dem theoretischen Lehrpfad bestehen zu können und erkannte bald, dass Perscheids Arbeiten zwar wertvolle Archive der Vergangenheit waren, aber nichts mit mir zu tun hatten. Ich schöpfte neues Selbstbewusstsein und erkannte bald meine eigene Handschrift in den Bildern.

Aus der Sicherheit schöpfte ich mehr und mehr Experimentierfreude, ich arbeitete mit erweitertem Zubehör (Farbfilter, Ringe, Langzeitbelichtung). Auch die Motivauswahl änderte sich. Photographierte ich anfangs Gegenstände und Pflanzen, oft in Inszenierungen zu Hause, um die Lichtverhältnisse zu kontrollieren, wagte ich mich nun an die Porträtphoto­graphie. Dafür braucht man viel Geduld, Mut und eine intensive Beziehung zum Abgebildeten, denn mit dem Festhalten des Augenblicks trägt man eine Verantwortung: Er wird für immer auf Papier gezeichnet sein. Die Photos aus dieser Zeit stellen meist gute Freunde und Verwandte dar.

Erste dokumentarische Versuche

Das nächste Ziel war nun, auch außerhalb des Freundeskreises Photos zu machen. Ich wollte mich an die dokumentarische Arbeit wagen, ohne zu wissen, was sie eigentlich genau beinhaltet. Ich fand einen Ort, an dem ich mit meinem Vorhaben willkommen sein würde. Ich fuhr für zehn Tage in eine

biodynamische Kommune. Dort wollte ich die alternative Landwirtschaft- und Lebensweise dokumentieren, um ein Porträt des Hofes zu erstellen. Dort angekommen, merkte ich, dass mein Projekt weit komplexer war, als erwartet. Nach drei Tagen hatte ich mich überhaupt erst eingelebt. Aber der angesichts des Feuerherdes, des Pferdepflugs und der schmiedeeisernen Pfannen pathetisch gewordene Nostalgiker in mir war außer sich. Zögerlich machte ich nach der Eingewöhnungsphase Probeaufnahmen, Menschen photographierte ich noch nicht. Es kam mir grob vor, in ihren Alltag einzubrechen, um bestimmte Momente einzufangen, für mich zu beanspruchen. Nach meinen Erfahrungen kann ich sagen, dass die Intensität eines Photos proportional zur Involvierung des Photographen in das Umfeld ist. Außerdem fühlte ich mich in der Rolle der Journalistin oder Beobachterin oft nicht wohl. Da klar war, weshalb ich dort war – um Momente mitzunehmen –, hatte ich das Gefühl, dass sich die Menschen anders verhielten, als sie es vielleicht getan hätten, wäre ich ohne diese Absicht dorthin gekommen. Die dokumentarische Arbeit hängt also sehr von der eigenen Ausstrahlung und Einstellung ab. Meine naive Herangehensweise ermöglichte mir aber zu erfahren, welche Herausforderungen eine journalistische Arbeit beinhaltet. Man muss sich vollkommen mit der Situation arrangieren, vollkommen im Jetzt leben (für einen Nostalgiker schwierig), von einem Fremden zu einem Freund werden. Erst dann kann die Kamera zum Einsatz kommen, denn man kann nur Momente einfangen, die einem auch gehören. Alles andere wäre Diebstahl, was man selbst spürt und Offenheit erschwert. Diese Erfahrungen waren wertvoll.

Die Langsamkeit des Silbers

Während des Projekts wurden mir die drei wichtigen Grundzüge des Photographierens deutlich: praktische Ausübung, künstlerische Gestaltung und Technik. Die Photographie führt hinaus in die Welt, sie verlangt Geduld und Schnelligkeit, Korrektheit und Mut. Sie fordert und verlangsamt den Photographen und den Betrachter. Überall Kontraste. Ich fühlte mich herausgefordert und wollte wissen, inwiefern ich die Anforderungen erfüllen kann, ob ich es schaffe, der extrovertierten Seite der Kunst zu genügen, auf Menschen zuzugehen, Inszenierungen zu schaffen. Wie viele Erfahrungen werde ich machen müssen, um zu wissen, welcher Photograph ich bin?

Besonders die Gegensätze der Photographie empfinde ich als interessant. Metaphorisch ausgedrückt: Der Photograph ist ein Neandertaler. Die Bilder sind die Beute. Die Dunkelkammer ist die Höhle des Urmenschen. Der Jäger jagt. Das erfordert Kraft und manchmal Selbstüberwindung. Hat der Jäger nach stundenlanger Jagd das Objekt erlegt, schleppt er es in seine Höhle. Hier wird er nicht nur belohnt für seinen Kraftaufwand, er hat auch die volle Kontrolle über das, was mit dem Objekt passiert. Dieses Erlebnis lässt ein angenehmes, dezentes Machtgefühl aufkommen, das ich sehr mag.

Ein grundlegender Unterschied der analogen zur digitalen Photographie ist die Langsamkeit. In einer Zeit, in der man auf kaum etwas warten muss, bedeuten drei Tage Entwicklungszeit eine enorme Entschleunigung. Ich empfinde digitale Bilder als weniger wertvoll, substanzloser, ohne Gewicht. Wir leben in einem Überfluss an Bildern, viele gehaltlos oder manipuliert, die bei Bedarf hoch- oder runtergeladen werden. Sie schwirren zu Milliarden im Netz herum und begleiten uns täglich, tauchen in Träumen auf, da wir sie nicht verarbeiten können, verzerren die Wahrheit oder stellen sie brutal zur Schau. Wenn man analog photographiert, beschäftigt man sich intensiv mit jedem einzelnen Bild. Man entwickelt ein tiefes Bewusstsein für den Wert, die Entstehung, die Aussage eines Photos. Man tritt in einen Dialog und nicht in eine Konfrontation. Dieser Dialog, diese Langsamkeit ist etwas, was man häufiger in sein Leben einbauen sollte, um sicher vorangehen zu können. Das ist etwas, zu dem ich durch diese Arbeit gekommen bin. Auch wenn die Bilder längst nicht professionell sind – es sind meine Bilder, durch die, nach und nach, wie ein Mosaik, mein Bild von der Welt entsteht. Langsam, in einer Hydrocheninlösung, die das verborgene Silber der Photoemulsion sichtbar macht. Mit einem leichten nostalgischen Knick, aber dafür ohne Pixel.