Naim

Sarah Greiner

Kurz nach 10 Uhr ging ich zum Empfang. Naim trug eine Daunenjacke und eine Lederkappe, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Dass diese Begleitung noch emotional werden würde, ahnte ich in diesem Moment nicht. Wir gingen los zur U-Bahn und in gebrochenem Englisch unterhielten wir uns. Seit wann Naim in Deutschland war, fragte ich. Sechs Monate. Wo er herkomme? Afghanistan. Ob er zu Fuß geflohen sei? Ja. Und dann kam die U12, die uns zum Kottbusser Tor bringen sollte, zur KuB, der Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und MigrantInnen. In der U-Bahn nahm sich Naim sein Handy und ich dachte, dass er wohl chatten oder im Internet surfen wollte, aber er hielt mir sein Handy hin: Zu sehen war ein schlankes Mädchen mit Kopftuch, unter dem dunkle Haare hervorblitzten. »My sister«, erklärte er. »Where is she?«, fragte ich. »Iran«. Und dann zeigte er mir ein Bild von seinem Bruder, der in London war. Und Naim saß hier in der Berliner U-Bahn, in der er, trotz all der Weltoffenheit, mit der sich die Hauptstadt so gerne schmückt, viele fragende Blicke auf sich zog. Er zeigte mir Bilder von sich in seinem Laden in Afghanistan, an einem Bahnhof, und erzählte mir, auf ein Bild meines Katers hin, begeistert von seinen beiden Katzen in seiner Heimat. »Do you want to see Greece?«, fragte er. Zunächst verstand ich ihn nicht ganz, doch da lief schon ein Video, das ein verlassenes Gefängnis, irgendwo in Griechenland zeigte, das den Flüchtlingen als zeitweiliger Unterschlupf diente. Naim tippte etwas herum, bevor er mir ein weiteres Video zeigte. Ein dunkler Flur ohne Fenster, Tapeten oder Fußboden, überall lag Müll. Naim ging durch ein kleines Zimmer, in das durch ein winziges Fenster kahles Licht fiel. »Man lived there for two months!«– »And how long did you stay there?« – »Two or three days …«. Die nächste Frage wollte ich am liebsten gar nicht stellen, aber irgendwie interessierte es mich doch. »Have you been in Hungary?« – »Yes. Angry policeman struck me.« – »For no reason?«, fragte ich, doch Naim suchte schon wieder auf seinem Handy. Zu sehen war die Außenseite seines rechten Fußes. Eine etwa zehn Zentimeter lange und sicherlich zwei Zentimeter dicke, genähte Wunde. Naim würde keiner Fliege etwas zu Leide tun, das wusste ich. Und auch wenn es bekannt war, dass ungarische Polizisten grundlos auf Flüchtlinge einprügelten, stieg ein Gefühl der Verzweiflung in mir auf. Aus Zahlen wurden Menschen, aus Schlagzeilen wurden Schicksale.

In S036 kannte ich mich nicht gut aus und so irrten wir etwas herum. Einmal fragte ich – ohne zu überlegen –, ob Naim etwas auf einem Straßenschild erkennen könne. Ich vergaß komplett, dass er zu 90 Prozent blind war. Während wir im Nieselregen über die Oranienstraße eilten, bekam ich einen Satz in Farsi beigebracht: Salaam, man hastam Sarah. »Guten Tag, mein Name ist Sarah.« Leicht verspätet erreichten wir die KuB, und nach einigen Komplikationen konnten wir zu Ali, der mit Jonas, ein Sozialarbeiter, der mein Praktikum begleitete, befreundet war. Ali war komplett blind, genauso wie eine weitere Dame, die mit uns in dem engen Kopierraum saß, in dem wir die nächste halbe Stunde beraten wurden. In erster Linie natürlich Naim. Für mich wurde ab und an alles auf Deutsch übersetzt, so dass ich mitschreiben konnte. Für Naim war dieses Gespräch schwerer, als erwartet.

Als er aus Afghanistan nach Deutschland kam, hoffte er, dass seine Krankheit hier heilbar wäre, doch die Charité musste ihm diese Hoffnung nehmen. Als wir um 12 Uhr wieder draußen ankamen, ging es ihm sehr schlecht. All das Witzige fehlte, er schob sich einfach seine Kappe wieder tief ins Gesicht, so dass man nicht nur seine Brille nicht sehen konnte, sondern sein komplettes Gesicht verdeckt war. Ohne Probleme fand er den Weg zur U-Bahn. Er führte über den Oranienplatz. Es war kalt und noch immer regnete es in Strömen. Ich wollte einfach nur zur U-Bahn, doch Naim blieb stehen und deutete auf Dinge in seiner Nähe: »This place: beautiful, this tree: beautiful, this house: beautiful, this street: beautiful. And my future is night.« – »But you will have images in your head. You won't forget this street or the sun or this house.«. Naim drehte sich zu mir. »No, my future is night. Night everywhere.« – »But there are also stars in the nightsky«, sagte ich und merkte, wie ich nur noch schwer die Tränen zurückhalten konnte.

Naim ist eine der stärksten Persönlichkeiten, die ich jemals getroffen habe. Er hatte es nicht verdient, zu wissen, dass er irgendwann all das hier nicht mehr sehen würde. Er erwiderte mit einem Kopfschütteln und versuchte nun, mich zu trösten. Vergeblich. In der U-Bahn fanden wir wieder einen Platz, doch die Stimmung erlaubte es nicht, dass wir uns Fotos zeigten. In der Prinzenstraße stieg ein obdachloser Mann in die U-Bahn. Er lehnte auf Krücken und hatte einen abgewetzten Rucksack auf dem Rücken. »Entschuldigen Sie, aber hat jemand Kleingeld für'n Löslichen? – Hat jemand etwas Klimpergeld für n' Löslichen vom Aldi?«. Naim guckte mich fragend an und ich übersetzte ihm. »How much?«, fragte er nur und kramte sein Portemonnaie hervor. Er suchte etwas, bis er mir eine Ein-Euro-Münze gab und mir bedeutete, sie dem Obdachlosen zu geben. Ich stand auf und ging zur nächsten Tür, vor der der Mann gedankenverloren stand. Ich sagte ihm, dass es nicht mein Geld war, sondern das des Mannes mit der Lederkappe. »Danke dir! Vielen Dank dir! Und Euch einen schönen Tag!«, rief der Mann durch den Wagen zu Naim, der müde lächelte. Und ich war einfach nur sprachlos. Naim dürfte wohl die Person mit dem geringsten Einkommen im ganzen Waggon gewesen sein und trotzdem hatte nur er dem Mann Geld gegeben.

(…)

Er bedankte sich erneut, bevor wir die Arbeiterwohlfahrt betraten, an deren Rezeption Nuhi schon auf uns wartete. Mascha würde Naim noch einmal wegen der Wohnungssuche sprechen müssen. Da Fajad noch da war, kam Naim etwas später wieder, Abdul diente als Übersetzer. Am 28. Oktober hatte Naim einen Termin beim Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk. Dort gab es zwar Übersetzer, aber nur Iraner, die Farsi sprachen und niemanden aus Afghanistan. Auf Wunsch Naims hin, beschloss ich deswegen mit ihm zu gehen, auch wenn der Termin in meinen Herbstferien lag. Er hatte Angst, nicht verstanden zu werden. Fahrida erklärte mir wenig später diese Sorge. Es gebe wohl Iraner, die für Afghanen falsch übersetzten. Naim war mir wirklich ans Herz gewachsen und als er mich nach einer Partie Schach fragte, war ich wirklich traurig, dass ich die Regeln nie wirklich gelernt hatte und deshalb nicht gegen ihn spielen konnte. Den restlichen Tag nach der Mittagspause verbrachte ich mit den Ordnern in den verschiedenen Sprachen, für die ich Flyer ausdruckte. Doch ein Satz begleitete mich noch den gesamten Tag und auch die nächste Zeit: My future is night.