Special Friends

Liebgard Stüve

In Sadhana Village

Nach etwa eineinhalb Stunden hatten wir Sadhana Village erreicht.

Das Village besteht aus drei Häusern, in denen die Betreuten – sie werden Special Friends oder einfach nur Friends genannt – zusammen mit den Hausmüttern und den Freiwilligen wohnen. Tagsüber arbeiten in den Häusern auch die Maushis (»Tanten«); das sind Frauen aus den umliegenden Dörfern, die für die gesamte Einrichtung kochen, saubermachen und die Wäsche waschen.

Als ich das Haus, in dem ich leben sollte, das erste Mal betrat, sah ich viele Personen auf einmal. Einer der Special Friends kam direkt auf mich zu, sein Name war Prakash, und er sprach mich laut und offen an. Das ermutigte die anderen Friends wohl etwas, denn danach kamen noch andere und begrüßten mich, etwas schüchterner und jeder auf seine Art. Prakash kannte keine Schüchternheit – er ließ mich gerade noch meine Sachen ablegen, um mich dann auf einen Rundgang durch die Einrichtung mitzunehmen. Zu jedem Ort in Sadhana Village wusste er eine Geschichte zu erzählen.

Ich lebte mich langsam ein. Der Alltag begann für uns morgens um sieben; wir weckten unsere Special Friends, halfen ihnen beim Anziehen und Zähneputzen. Ich merkte mir, wer morgens immer versuchte, meine Weckrufe mit der Decke über dem Kopf zu ignorieren, wer als erstes mit der Zahnbürste am Waschbecken auf mich wartete oder wer auf fürsorgliche Weise einem anderen Special Friend beim Anziehen half.

Nach dem Tee trafen wir Freiwilligen uns immer mit den Friends aus allen Häusern draußen zur Morgengymnastik. Wir machten einfache, spielerische Übungen, die ihnen Spaß machten. Es war schön, die Morgensonne zusammen zu genießen, bevor es zu heiß wurde, und die Friends dabei zu beobachten, wie sie immer munterer wurden.

Während des Tages nahmen mich die Morgenworkshops, die wir täglich für die Betreuten anleiteten, gedanklich und emotional am meisten in Anspruch. Sie fanden in zwei kleineren Hütten auf dem Gelände statt. Hier fassten die Friends langsam Vertrauen zu mir. Wir malten, sangen, trommelten, bastelten zusammen und die Atmosphäre war gelöst, aufgeschlossen und bewegt. Mit denen, die sprechen konnten, tauschten wir uns in kleinen Gruppen aus und brachten uns gegenseitig Wörter in unserer Sprache bei.

Prakash konnte ohne Ende reden und hatte eine ausgezeichnete Auffassungsgabe, was fremde Sprachen anbetraf. Seine Wissensbegierde war unerschöpflich. Wenn ich über andere Länder sprach oder eine Geschichte erzählte, hörte er mir mit weit geöffneten Augen und leicht nach vorne gelehntem Oberkörper zu und er behielt fast alles von dem, was ich mitteilte.

Eine Betreute namens Sujiata war künstlerisch sehr begabt und malte wunderschöne Bilder. Ihr fiel es schwer, sich an konkrete Dinge zu erinnern und Situationen um sich herum zu erfassen, aber sie konnte ihre Eindrücke einzigartig mit Farben und Papier festhalten.

Raj dagegen liebte es, zu tanzen und konnte nie stillhalten, wenn irgendwo Musik erklang, jemand sang oder trommelte.

Akash wiederum konnte vollkommen gerade Kerzen ziehen, obwohl seine Hände im Alltag immer zitterten und Madvi half in der Küche mit einer Ausdauer und Geduld, die alle anderen übertraf.

Mitali konnte sich nie lange bei einer Aktivität aufhalten, aber nicht aus Unwilligkeit oder Trotz. Ihre Art war es, immer zwischen den verschiedenen Gruppen hin -und herzuwandern und sich zu versichern, dass es allen gut ging. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, kam sie gemütlich auf mich zugeschlendert. »Tai! What are you?« »Tai« ist das Marathi-Wort für große Schwester. Sie will wissen, was ich mache. Wenn wir von den Workshops zurück in die Häuser kamen, empfing uns schon der Duft des Mittagessens. Ich liebte es, das Essen für alle auszuteilen, eingehüllt vom einzigartigen Duft des frischen, dampfenden Reises, des würzigen Gemüsecurrys und Linsen-Dals. Das Essen scheint in Indien einen anderen Stellenwert zu haben, als ich es von zuhause kenne. Es wird anders zelebriert und viel weniger als selbstverständlich genommen – es ist heilig. Eine gängige Art in Indien, sich zu erkundigen, wie es jemand anderem geht, ist, zu fragen, ob man heute schon gegessen hat.

Bevor wir mit dem Essen begannen, wurden Mantren auf Sanskrit gebetet. Sie waren lang und ich verstand nichts davon, aber ich mochte den Einklang der Worte mit den Stimmen in der Gruppe. Fast alle Special Friends konnten die langen Gebete sprechen und ich versuchte, mir jedes Mal etwas mehr zu merken. Sujiata übersetzte sie mir sogar und schrieb mir die Übersetzung sorgfältig auf.

Nach dem Mittagessen brachten wir die Friends für eine einstündige Mittagspause in ihre Zimmer. Oft war es so heiß und die Erschöpfung vom ersten Teil des Tages so groß, dass ich in der Pause kraftlos ins Bett fiel. Der Rest des Tages verlief ruhiger. Nachmittags wurden die Aktivitäten nicht von uns Freiwilligen angeleitet, sondern von Menschen, die von außen kamen. Aus Lokeshs Nachmittagsworkshop drang der Klang vieler Trommeln in Kombination mit kehligen Gesängen. Lokesh war ein älterer Herr, der für seinen zierlich gebauten Körper über eine beeindruckend kräftige, volle Stimme verfügte. Er kam aus einem der umliegenden Dörfer, um mit den Friends traditionelle, indische Lieder zu singen. Aditi und Rudesh kamen aus Pune und boten Yoga an. Die Friends genossen es, wenn sie ihre Körper auf diese Weise bewegen und spüren konnten. Meist waren sie danach ausgeglichener und friedlicher. In der darauf folgenden Freizeit zogen sich manche von ihnen in ihre Zimmer zurück und beschäftigen sich allein.

Mit anderen dagegen unternahm ich kleine Spaziergänge auf dem Gelände und in den trockenen Monaten gossen wir zusammen die Obstbäume.

Rahul half mir dabei am fleißigsten; er trug die vollen Wassereimer bedächtig unter dem dunklen Laub der Mangobäume, von einem Stamm zum Nächsten. Wenn wir den Eimer gemeinsam kippten, das kostbare Wasser sich auf die Wurzeln ergoss und von der ausgetrockneten Erde durstig aufgesogen wurde, erhellte sich Rahuls Gesicht und er lächelte.

Mit Prakash traf ich mich täglich draußen auf den Stufen der Veranda unseres Hauses und las ein oder zwei Kapitel aus einem Buch auf Englisch, zum Beispiel Siddharta von Hermann Hesse. Er hörte mir konzentriert zu, den Blick in die Ferne, die Aufmerksamkeit auf meine Worte gerichtet, während er sonst im Trubel des Alltags oft laut, aufgeregt und ein bisschen hektisch war. Nur manchmal unterbrach er mich, um Fragen zu stellen oder etwas mitzuteilen, was ihm zu dem Gehörten einfiel. Manchmal kamen auch andere Friends und hörten zu, obwohl sie kein Englisch verstanden.

Vor dem Abendessen hatten alle Freiwilligen eine zweistündige Pause. Für mich war dieser Abstand zu den Friends wichtig, um meine Erfahrungen mit ihnen zu verarbeiten. Es gab Tage, an denen die Hitze so unerträglich war, dass man kaum einen Schritt tun konnte und trotzdem alle bei Laune halten und motivieren musste. Tage, an denen alles schief zu gehen schien und sich Unmut, Frustration und Ärger in der Gruppe wie ein Virus ausbreiteten. Oft hatte ich dann mit Überforderung und Druck zu kämpfen. Tagebuch schreiben half sehr. Durch das Schreiben wurde mir bewusst, dass meine Emotionen die Friends beeinflussten – und umgekehrt; so konnte ich besser mit schwierigen Tagen umgehen.

Zusammen Feste feiern

Es gab immer wieder Tage, die vom Alltag abwichen, wie Besuche, Geburtstage und Feiertage. Alle großen Hindufeste wurden gefeiert – aber besonders eindrücklich waren für mich das Ganpati-Fest im September, Diwali, das Lichterfest im Oktober, und das Farbenfest Holi, das im März gefeiert wird.

An diesen Tagen führten wir die dazugehörigen Rituale gemeinsam durch, es wurde viel gesungen und es gab ein besonderes Essen. Jedes Fest hatte seine eigene Stimmung, die sich auf die ganze Gruppe übertrug. Diwali fühlte sich für mich besonnen, warm und glücklich an, Holi dagegen ausgelassen und extrovertiert.

Obwohl es in der fast ausschließlich hinduistischen Umgebung von sonst niemandem gefeiert wurde, feierten wir auch Weihnachten. In Sadhana Village ist es über die Jahre, in denen immer wieder deutsche Freiwillige dort waren, üblich geworden, dass diese ein Weihnachtsfest planen und nach ihren Vorstellungen vorbereiten.

Am Weihnachtstag kochten wir ein deutsches Essen für die gesamte Einrichtung und backten zusammen mit den Special Friends Plätzchen. Wir schmückten das Haus und als es dämmerte, versammelten wir uns im Kreis um Zweige, Blumen und Kerzen. Wie Weihnachten zuhause fühlte es sich nicht an – es herrschten tropische Temperaturen – aber es war erwartungsvoll, feierlich auf eine ganz eigene Weise. Wir sangen Lieder, die wir den Friends beigebracht hatten, dann wurde es ganz still. Die Kerzenflammen erzeugten wandernde Schatten an den Wänden und man hörte das Zirpen der Grillen draußen vor den offenen Fenstern. Wir hatten für den Abend ein Märchen ausgewählt. Gautam, ein indischer Freund, den wir in Pune kennengelernt hatten, war eingeladen. Er übersetzte das Märchen aus dem Englischen in Marathi, begleitet von ausdrucksstarker Gestik und Mimik, sodass die Friends nach den ersten Sätzen ganz gebannt waren. Ich hatte sie noch nie so fokussiert erlebt. Sogar diejenigen, die sonst durchgängig Geräusche machten, verhielten sich ganz still – ein ergreifender Moment.

Authentisch sein

Es ist nicht schwer, mit Behinderten zusammenzuleben, in vielerlei Hinsicht ist es sogar einfacher. Denn die meisten von ihnen signalisieren sehr deutlich, was sie wollen, wie sie sich fühlen, was sie gerne mögen und was nicht. Sie verhalten sich so authentisch, wie ich es bisher nur bei manchen Kindern erlebt habe, nicht aber bei Erwachsenen. Die Special Friends hielten keinerlei Regungen oder emotionale Bedürfnisse zurück. Wenn ihr danach war, umarmte mich Mitali unvermittelt und fest. Wenn Prakash unsicher war, stellte er Fragen und hakte nach, auch wenn es Ewigkeiten dauerte, bis er hundertprozentig zufrieden war und die Person, zu der er sprach, schon leicht genervt war. Und Raj wäre nie auf die Idee gekommen, im Workshop seine aufkommenden Tränen zu unterdrücken, weil er traurig darüber war, dass er seinen Lieblingsstift nicht finden konnte. Sie alle machten sich keine Sorgen darüber, ob sie anderen damit auf die Füße traten oder einen schlechten Eindruck hinterließen.

Nach weniger als zwei Wochen in Sadhana Village wusste ich bei jedem, woran ich war und stellte fest, dass ich zu ihnen eine unmittelbare Gefühlsbindung aufbauen konnte, schneller als mit den meisten anderen Menschen. Ich erlebte dort eine unvergleichliche Herzlichkeit, lernte selbstverständliche Akzeptanz kennen.

Tugenden wie Geduld, Spontaneität und Flexibilität verinnerlichte ich neu und intensiver. Vor allem aber habe ich die Unsicherheit im Umgang mit Menschen mit Behinderungen abgelegt, mehr noch, ich habe mich mit ihnen an vielen Tagen sogar freier gefühlt, als in meinem gewohnten Umfeld.

Der Abschied fühlte sich abrupt an und die Ankunft in Deutschland wie ein doppelter Kulturschock. So ein anderes Land, so altvertraut und zugleich ganz fremd – und auf einmal keine Special Friends mehr in meinem Alltag. Ich vermisse sie sehr.

Wochenlang konnte ich meine Gedanken kaum auf etwas anderes fokussieren als auf Indien, dieses warme, riesige, bunte Land, das mich so viele Wunder hat sehen lassen. Wochenlang dachte ich an den Ort und die Menschen, mit denen ich jeden Tag verbracht hatte und die nun so weit weg sind.

Zurück in Deutschland fühlte ich mich nach dieser intensiven Erfahrung ein bisschen verloren; durch dieses Gefühl jedoch konnte ich anerkennen, was für einen großen, wichtigen Einfluss die Reise auf mich hatte. Ich schöpfe immer noch Kraft aus ihr, um meinem weiteren Weg zu folgen. Ich weiß noch nicht wohin er geht. Aber ich hoffe, dass er mich eines Tages zurückführt.