Warum Pусский an der Waldorfschule?

Favian Bauer

Russisch kann den Eltern Sorgen bereiten, weil viele ihr Kind im Gegensatz zu Fächern wie Deutsch, Mathematik oder Englisch beim Lernen nicht direkt unterstützen können. Ich bin der Meinung, dass gerade diese Tatsache eine Perspektive sowohl für die Kinder als auch die Eltern bietet. Im Fach Russisch kann sich das Kind frei entfalten. Es kann im Rezitieren alter Gedichte, Singen russischer Lieder und im Erlernen der Schriftzeichen des Kyrillischen eine ganz eigene Welt entdecken.

Auch meine Eltern waren zunächst außen vor – Risiko und Chance zugleich. Ich konnte so erleben, wie es sich anfühlt, etwas nur mit meinen Klassenkameraden zu lernen, ohne dass Eltern helfen oder stören konnten. Ich durfte mich ganz in eine Sache vertiefen und eine Unabhängigkeit im Lernen entwickeln, die mir während der gesamten Schulzeit und darüber hinaus hilfreich war und ist. Für mich als Schüler der zweiten und dritten Klasse war ein ungekanntes Erfolgsgefühl damit verbunden, einen Text auswendig rezitieren zu können und meine Eltern in Staunen zu versetzen: Sie hatten kein Wort verstanden. Für mich war es ein Triumph und gleichzeitig das Signal: Das habe ich selber geschafft! Russisch als Schulfach gibt Kindern von Anfang an die Möglichkeit, zu erleben, wie sich Eigenverantwortlichkeit anfühlt und dient somit dem Prozess der Autonomieentwicklung in der Unterstufe.

Eltern lernen loszulassen, Kinder lernen anzupacken

Dies muss nicht mit dem Eintritt in höhere Klassenstufen enden. Bis in die Abiturvorbereitung hinein wird vor allem von Schülern, die das Fach als schriftliches Prüfungsfach wählen, ein hohes Maß an Eigenengagement und Initiative verlangt. Der Prüfungsstoff ist eben nicht in zahllosen Lehrbüchern schnell und einfach nachzuschlagen. Eigene Recherche, die Strukturierung von Lernmaterial und das Erarbeiten von eigenen Übungsstrategien sind Kompetenzen, die ich beim Russischlernen entwickeln konnte.

Die Gewissheit, solche Fähigkeiten verinnerlicht zu haben, gibt mir Sicherheit, auch ein solch lernintensives Studium wie das der Humanmedizin zu bestehen.

Oft wird am staatlichen Schulsystem kritisiert, dass es sich zur Aufgabe macht, bis zum Schulabschluss vorwiegend kognitive und analytische Fähigkeiten der Schüler auszubilden. Die Waldorfschule verfolgt ein ganzheitlicheres Bildungskonzept. Unser Russischunterricht ordnet sich nahtlos in dieses Selbstverständnis ein. Das erste Lernen besteht nicht aus der Kenntnis von Grammatik und Vokabeln. Vielmehr steht der intuitive, emotionale Kontakt über das Rezitieren und die klangliche Erfahrung der Sprache im Vordergrund. Dies ist nach meiner Erfahrung beim Sprechen wichtiger als die Grammatik, die erst ab der Mittelstufe gelehrt wird. 

Eine lustige Begebenheit auf unserer Austauschreise war, dass meine Gasteltern in Sankt Petersburg mich anfänglich für einen in Deutschland lebenden Russen hielten. Im Telefonat mit unserer Lehrerin stellten sie erstaunt fest, es seien ja auch russische Schüler Teil der Gruppe. Dieses indirekte und unerwartete Kompliment erfüllte mich natürlich mit Stolz. 

Aus heutiger Sicht bestätigt es den Ansatz, dass Schüler die Sprache erst über die Sinne, dann über den Intellekt verstehen sollen.

Schlüssel zur Mentalität

Man kann sagen, dass Sprache ein Schlüssel zur Auseinandersetzung mit einer Kultur, den Menschen und ihrer Mentalität ist. Im Falle von Russisch sehe ich dieses Anliegen während meiner Schulzeit besonders erfüllt. In mehreren Austauschprogrammen mit Russland und Kasachstan hat mein Russisch einen konkreten Bezug bekommen. Durch die Sprache konnte ich Einblicke in den slawischen und osteuropäischen Kulturraum gewinnen, die mich tief beeindruckt und geprägt haben. Gastfreundlichkeit, Offenheit und der Sinn für die Gemeinschaft sind in der russischen Seele so tief verwurzelt, wie ich es in der westlichen Hemisphäre bisher noch selten finden konnte. Als Gast durfte ich eine Einstellung miterleben, die das Teilen als Erfüllung für den Nehmenden und den Gebenden umfasst. Daraus entsteht bei den Menschen eine Empathie und Zugewandtheit im Charakter, die bewundernswert ist.

Ich glaube, dass Austauschprogramme auch auf gesellschaftlicher Ebene einen großen Beitrag zur Völkerverständigung leisten. Die Freude daran, sich eine fremde Mentalität im direkten Kontakt mit Menschen zu erarbeiten, ist eine der prägendsten Erfahrungen meiner Schulzeit. Das Zusammenleben und gegenseitige Verstehen unterschiedlicher Kulturen wird auch in Zukunft eine entscheidende Rolle spielen. Deshalb sind Austauschprogramme wichtig für das Heranwachsen offener und dialogfähiger Generationen – gerade in Bezug auf Russland und den östlichen Kulturraum.

Mit Russisch geht die Tür zum Osten auf

Ich habe das Gefühl, mit dem Einblick in die russische Sprache und Mentalität ein verbindendes Element in mir zu tragen. Das trifft gewiss auf jede Fremdsprache zu. Aber Russisch können nicht viele, da es in Deutschland nur an Waldorfschulen und vereinzelten Gymnasien unterrichtet wird. Dem steht gegenüber, dass die Sprache die Kommunikation mit etwa 200 Millionen Menschen ermöglicht, die im postsowjetischen Raum leben. Während Englisch der Universalschlüssel zum westlichen Kulturraum ist, bietet Russisch Zugang zu einem großen Teil der östlichen Welt. Mit beiden Sprachen ist uns Schülern die Möglichkeit gegeben, beide Kulturräume zu erkunden und zu verstehen. 

Auch im Alltag wird die russische Sprache an Stellen, an denen man es kaum erwartet, zu einem großen Vorteil. Mittels der Sprache kann ich auch in Deutschland sofort eine emotionale Verbindung zu den unterschiedlichsten Menschen herstellen. In den Kliniken, in denen ich in den vergangenen Monaten das Pflegepraktikum fürs Medizinstudium gemacht habe, konnte ich mich sowohl mit Reinigungskräften, Krankenschwestern und Anästhesisten austauschen, als auch dem Chefarzt als Dolmetscher bei der Visite einer russischen Sportlerin zur Seite stehen. Ein solches Spektrum verschiedener Menschen in ihrer Muttersprache ansprechen zu können, zu denen ich vorher eine große Distanz hatte, verschafft mir große Befriedigung. In diesen Momenten weiß ich, wieso es richtig ist, an der Waldorfschule Russisch lernen zu können.

Die Tendenz, das Fach Russisch mehr und mehr aus den Lehrplänen deutscher Schulen und Waldorfschulen zu streichen, kann ich in Anbetracht meines persönlichen Gewinns durch das Russischlernen nicht gutheißen. Ich bin dankbar dafür, dass ich die russische Sprache an der Waldorfschule lernen konnte.

Zum Autor: Favian Bauer (19) machte 2018 sein Abitur an der Freien Waldorfschule am Kräherwald in Stuttgart. Er ist Träger des Tschechow-Preises des Russischlehrerverbandes Baden-Württemberg.