Wir sind keine Roboter

Emily Rose

Irrige Vorstellungen davon, was Autismus sei, rühren häufig daher, dass in den Medien immer extreme Autisten dargestellt werden. Man verzichtet auf eine differenzierte Betrachtung und das verzerrt das Bild.

Autismus kann lähmend sein, er kann aber auch genauso gut zu beeindruckenden menschlichen Leistungen beitragen.

Autistische Menschen sind talentiert, begabt, mit einer hohen Konzentrationsfähigkeit und einem hervorragenden Gedächtnis für Fakten, Zahlen, Diagramme und andere nützliche Dinge. Albert Einstein, Alan Turing und Isaac Newton litten vermutlich alle an verschiedenen Formen von Autismus: drei der wichtigsten Wissenschaftler, die die Welt je gesehen hat.

Der Mythos fehlender Emotionen

Es ist unter nicht-autistischen Menschen bekannt, dass wir Autisten Schwierigkeiten haben, Emotionen bei anderen Menschen zuverlässig und intuitiv zu erkennen. Viele Menschen ziehen dann daraus den Rückschluss, dass wir keine Emotionen haben. Weil wir Gestik und Mimik als Ausdrucksmittel unserer Gefühle eher reduziert anwenden, nehmen die Menschen an, dass wir auch innerlich unbewegt sind. Der Eindruck kann täuschen. Ein Beispiel: Du lächelst eine autistische Person an und sie lächelt nicht zurück. Das liegt nicht daran, dass wir dich nicht mögen oder dass wir nichts fühlen, sondern daran, dass wir die Botschaft, die durch das Lächeln vermittelt wird, entweder nicht verstehen oder dass wir nicht wissen, wie wir auf sie angemessen reagieren sollen. Viele von uns versuchen, ihre fehlenden spontanen Reaktionen über logisch kontrolliertes Handeln zu kompensieren, um nicht aufzufallen – was mit großen Anstrengungen verbunden ist. Mit der Zeit habe ich mir durch jahrelanges Beobachten und Studieren meiner Mitmenschen das Wissen über diese sozialen Codes angeeignet und sie angewendet. Doch auch heute noch führe ich tagtäglich holprige Gespräche, mache mir Sorgen darüber, ob ich andere Menschen vor den Kopf gestoßen haben könnte, bin verwirrt, wenn andere ihre Aussagen nicht präzisieren, stolpere auf der Straße fast über andere Leute, weil ich nicht einschätzen kann, ob sie links oder rechts an mir vorbeigehen wollen, und leide an anhaltender Erschöpfung, weil ich unglaublich viel geistige Kraft dafür aufwenden muss, um das alles zu verstehen. Es ist ein Märchen, dass autistische Menschen nichts fühlen. Autisten erleben Emotionen häufig intensiver und anders als Gleichaltrige, weil sie Geräuschen, Berührungen, Geschmackseindrücken, Gerüchen, Licht und Farben gegenüber überempfindlich oder nicht empfindlich genug sind.

Kein Vokabular für das Gefühl im Bauch

Viele Autisten berichten davon, dass sie Gefühle im Vergleich zu nicht-autistischen Menschen anders wahrnehmen und auch ein anderes Körpergefühl haben. Um ein Beispiel zu nennen: Wut wird oft mit »Ich habe Wut im Bauch« beschrieben. Das liegt wohl daran, dass eines der körperlichen Anzeichen für die Emotion Wut ein verändertes Gefühl im Bauchbereich ist. Autisten nehmen das sehr wohl wahr, sie verbinden bloß eben dieses veränderte Bauchgefühl nicht immer mit einer Emotion. Es ist für einige schlicht und einfach ein Bauchschmerz oder eine Form von Übelkeit. Verliebtsein ist auch so ein Fall: Für die einen sind es die Schmetterlinge im Bauch, die sie als Verliebtheit deuten, für die anderen ist es unter Umständen etwas, das sie zu dem gänzlich unromantischen Kommentar »Mir ist schlecht!« veranlasst. Etwas das wohl jeder in einem solchen Moment als klare Abfuhr bezeichnen würde.

Wie unterscheidet man, ob man Bauchschmerzen hat oder ob es Angst oder eines der vielen anderen »Gefühle im Bauch« ist? Beschreibt man schlichtweg das, was man fühlt, kommt eine recht körperliche und nüchterne Beschreibung heraus. Und genau das wird von der Umwelt oft als gefühlskalt oder emotionslos empfunden und beschrieben. Ich denke, hier fehlt das passende Vokabular, um das, was man zweifellos fühlt, auch ausdrücken zu können. Es fehlt aber auch der Weg zur passenden Vokabel. Ein Gefühl ist ein sehr komplexer und tief im Menschen verankerter Prozess. Diese ganzen Puzzleteile zu einer Einheit zusammenzusetzen, dürfte das sein, was vielen Autisten schwer fällt. Sie haben die Puzzleteile, sie können sie nur nicht zu einem für die Außenwelt stimmigen Bild zusammenführen.

Wie ein Schauspieler mit vielen Drehbüchern

Jene Autisten, denen eine besondere Beobachtungsgabe gegeben ist, lernen wirkungsvolle »Schauspieler« zu sein; oft geben sie vor, »hineinzupassen« oder zumindest nicht »außerhalb zu stehen«. Wenn wir uns in ein soziales Ereignis hineinbegeben, scannen wir sofort die Menschen ab, um zu sehen, wie sie handeln. Daraus lernen wir, ihr Verhalten zu kopieren, so dass wir uns angleichen können. Wenn wir nur mit einer Person sprechen, können wir das recht gut steuern, doch wenn es eine Konversation mit mehreren Leuten ist, fühlen wir uns sehr schnell auf verlorenem Posten. Damit Menschen aus dem autistischen Spektrum in solchen Situationen Erfolg haben, müssen sie zu scharfsinnigen Sozialwissenschaftlern werden und oft ein Verhalten nachahmen, das sie selbst nicht verstehen. Mit den Jahren sammeln wir eine Menge an »Drehbüchern«, die wir an viele Situationen anpassen können. Wir lernen Drehbücher, um uns vorzustellen, Themen für einen Smalltalk, um angenehm zu wirken. Je älter wir werden und je mehr Erfahrungen wir sammeln, desto geschickter werden wir darin. Doch mit der Zeit fordert dieses soziale Schauspielern seinen Tribut. In sozialer Hinsicht kann die Person nicht sie selbst sein. Sie muss etwas vorspiegeln! Da wir aus unseren Beziehungen zu anderen ein Eigenempfinden entwickeln, zehrt das an unserer Identität und an unserem Selbstwertgefühl. Wenn man immer so tun muss, als ob, wird man angespannt, zornig und depressiv. Und es ermüdet. Auch bei denjenigen, die gut darin sind, fordert der Versuch, andere zu kopieren, große mentale Energie und kann nur eine kurze Zeit lang andauern.

Flucht in die Stille

Da es mir oft nicht gelingt, aus der Intuition heraus die Menschen einzuschätzen und zu verstehen, ist mir eine bekannte verlässliche Person an meiner Seite eine große Hilfe. Durch ihre mir bekannte Stimmung, an ihrem mir bekannten Verhalten und ihren Äußerungen ist es mir möglich, zu erkennen, wie sicher oder wie riskant es gerade ist, in einer fremden Menschengruppe zu sein. Ohne so ein »Barometer« an meiner Seite ist jede neue Begegnung eine unglaubliche Mühe und ein mit Missverständnissen und Irritationen übersäter Kampfplatz.

Ohne gute Beziehungen und intakte Freundschaften wäre so manches in meinem Leben anders gekommen. Wenn ich zurückblicke, wo ich meine ersten Erfahrungen mit Menschen machte, die nicht unmittelbar zu meiner Familie gehörten, dann waren das Kindergarten und die Schulzeit.

Der Kindergarten war kurz und schmerzhaft, aber eben aufgrund der Kürze ohne nennenswerte Bedeutung. Doch habe ich hier bereits erkannt, dass Fremde unangenehme Empfindungen in mir auslösten. Und ich habe gelernt, mich mit Stille und Schweigen in mir selber zu verstecken, wenn es nötig war.

Schlechte Chancen ohne Freunde

In der Schule war es anders. Hier mussten mehr Erwartungen erfüllt werden und die ersten Grundschuljahre erlebte ich in einem anhaltenden Zustand der Nervosität. Ich verstand meine Mitschüler nicht: nicht ihre Art und nicht ihre Spiele. Ihre Späße hielt ich für dumm. Ich war ein stilles, zurückhaltendes Kind und so gab es wenige oder nur sparsame Beziehungen. Die wenigen aber benötigte ich so dringend, dass ich für sie alles gegeben hätte. Die wenigen brauchte ich nicht für meinen eigenen Zeitvertreib, dafür reichte ich mir vollkommen alleine. Die wenigen benötigte ich zu meiner Sicherheit an meiner Seite, als Barometer, das mir anzeigt, wann eine Situation eine spaßige und wann sie eine ernste war; was es wann zu äußern galt oder wann man besser den Mund hielt. Ich kopierte mitunter sämtliche Verhaltensgewohnheiten einer jeden Mitschülerin, die sich eine Zeit lang »meine Freundin« nannte, ohne dies beeinflussen zu können. Bei der üblichen Frage, die im Zusammenhang mit einer Autismusdiagnose gestellt wird: »Hatten Sie Freunde?«, antworte ich wahrheitsgemäß mit »Ja«. Ohne diese Begleiter hätte ich nämlich die Schulzeit nicht überstanden.

Doch je älter wir in unserem Klassenverband wurden, um so diffuser wurden mir die sozialen Regeln. Es schien nie wirklich etwas zu stimmen. Ich konnte nie sichergehen, eine Bemerkung, einen Witz, eine Äußerung richtig verstanden zu haben. Ich hatte das Gefühl, ich passe nicht annähernd und niemals in das übliche Schema. Alle wurden älter und doch immer verschiedener. Sie wurden älter in Dingen, in denen ich Kind blieb. Sie waren Kinder in meinen Augen, während ich mich sehr erwachsen und abgeklärt fühlte. Eine Schere, die auseinander ging, und die ich heute noch so empfinde. Es bot sich nur selten die Gelegenheit, soziale Verwirrungen zu klären und nachzufragen. Jeder Tag war riskant und unberechenbar, jeder Tag aufs Neue eine Anstrengung. Das Schlimmste waren Pausen oder Freistunden.

Regelmäßig wurde ich krank. Während meiner Schulzeit sammelte ich etliche Fehlstunden. Die dauerhafte Anstrengung, mit den sozialen Missverständnissen zurecht zu kommen, die Anpassungsbemühungen, der fremde Ort, der fremde Rhythmus und keine Chance auf Rückzug brachten mich jeden Tag in einen Überforderungszustand.

Wenn man sich nicht mitteilen und seine Bedürfnisse verständlich machen kann, erfindet der Körper Strategien, die ihm die nötigen Ressourcen sichern, die er unmittelbar zum Durchhalten braucht. Und so kam es, dass es mir eine lange Zeit, über Monate hinweg, nicht möglich war, die Schule zu besuchen. In vielen Momenten meines Lebens hätte ich mir nur eine verlässliche Begleitung oder Beziehung gewünscht. Die hätte es erleichtert und mit ihr hätte ich die Chance gehabt, einige soziale Irritationen zu verstehen und möglicherweise zu umgehen. Was mir nicht aus der Intuition ersichtlich ist, versuche ich zu erfahren. Wenn ich einen Begleiter habe, dann erfrage ich Unverständliches bei ihm. Wenn ich keinen Begleiter habe, erkläre ich mir mit vielen Verwirrungen die undurchsichtigen Äußerungen, Erlebnisse und Beobachtungen sozialer Zwischenmenschlichkeit eben selber. Beides birgt Risiken. Kann man einer Begleitung, einer Person, an der man sich aus Not anhänglich orientiert, denn so bedingungslos trauen? Sind ihre Erklärungen allgemeingültig und entsprechen den moralischen, sozialen Standards? Natürlich nicht, musste ich dann immer wieder durch Erlebnisse erfahren.

Bloß etwas Verständnis

Autistische Menschen haben einen überdurchschnittlich hohen IQ und sind im akademischen Bereich normalerweise sehr erfolgreich. Wenn sie da Hilfe, Unterstützung, Liebe, Zuneigung und das notwendige Verständnis erhalten, werden sie keinem Leben voller Traurigkeit, Depressionen und Selbstmordgedanken entgegensehen müssen. Wir sind in der Lage, Beziehungen einzugehen, ein glückliches Leben zu führen und einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten.

Wenn wir zukünftigen Generationen dabei helfen wollen, die Probleme zu lösen, braucht es in der Gesellschaft mehr Wissen über und mehr Verständnis für Autismus, damit autistische Menschen die Hilfe bekommen können, die sie brauchen. Wir müssen in jedem Bereich der Gesellschaft vom Gesundheitswesen über das Sozialwesen bis hin zu Kultur und Medien mehr Verständnis für diese Störung wecken. Autistische Menschen benötigen bloß etwas Verständnis. Wir sind keine emotionslosen Roboter. Wir sind menschliche Wesen.

Zur Autorin: Emily Rose (18) besucht die Windrather Tal-Schule in Velbert und wird in diesem Jahr ihre Fachoberschulreife erwerben. Anschließend möchte sie an das weiterführende Berufskolleg der Schule, Fachrichtung Gesundheit und Erziehung, gehen.