Zwischen Schlangen und Maracujas. Sozialpraktikum in Brasilien

Helen Britt

Generell gibt es hier einige Dinge, die ich bisher nur auf Fotos gesehen habe: Bananenstauden, Kaffeepflanzen oder Tukane und Schlangen. Ich befinde mich in der Nähe von Botucatu, einer Stadt rund drei Stunden nordöstlich von São Paulo. Ich hätte nie gedacht, dass ich mein Sozialpraktikum der 11. Klasse hier absolvieren würde, aber nun bin ich für einen Monat hier, auf der Demetria.

Die Demetria ist ein Stadtteil von Botucatu und hebt sich stark vom Rest der Stadt ab: Es gibt hier keine geteerten Straßen und im Vergleich zu den Bäumen nur wenige Häuser. Die Demetria ist ein Ort voller Leben, wie eine große Farm, über der nachts ein funkelnder Sternenhimmel leuchtet, da es keinen Smog und keine Großstadtlichter gibt. Auf dem Gebiet befindet sich die Estancia Demetria, ein biologisch-dynamischer Betrieb, der seit den 1980er Jahren existiert. Seitdem haben sich hier immer mehr Wohnsiedlungen gebildet. Mittlerweile sind noch ein kleiner Bioladen, eine Behindertenwerkstatt und eine Waldorfschule hinzugekommen.

Eines der sozialen Projekte, die ich während meines Aufenthaltes in Brasilien kennenlerne, liegt am Rande von Botucatu, in einem Stadtviertel, in dem jedes Haus dem anderen gleicht: klein, grau und umzäunt. Der Staat hat hier wohl einfach ein Wohngebiet gebaut, um der Entstehung einer Favela vorzubeugen.

Ohne Worte ist manchmal besser

Das Projekt heißt »Bem Te Vie« (nach einer Vogelart) und ist eine Mischung von Kindergarten und Hort für die Kinder, die in diesem Viertel aufwachsen. Die meisten von ihnen haben mit schwierigen Situationen – sowohl sozialer als auch finanzieller Art – zu kämpfen: Sie sehen, wie Drogen konsumiert oder gehandelt werden, tragen oft tagelang dieselben Klamotten, da das Geld nicht zum Waschen reicht, und sehen sehr viel fern, da die Eltern arbeiten und keine Zeit für sie haben. Die Räume des Kindergartens und Horts bestehen aus zwei kleinen grauen Häusern, zwischen denen sich ein gekachelter und überdachter Innenhof befindet. Als ich das erste mal zu »Bem Te Vie« komme, werde ich freundlich von den Erzieherinnen begrüßt. Die Kinder sitzen gerade beim Frühstück, es gibt Weißbrot mit Butter und Kakao. Als sie mich entdecken, stehen sie auf oder winken mir zu und stellen viele Fragen, die ich leider nicht verstehen kann. Obwohl ich nicht antworte, werde ich herzlich umarmt. Zum Glück kann eine der Erzieherinnen Englisch, weshalb ich den Tag und auch die folgenden Tage mit ihrer Kindergruppe verbringe.

Die Kinder sind zwischen vier und sechs Jahre alt und haben fast alle dunkle Locken. Viele sind sehr sportlich, können Handstand und Rad und klettern geschickt über Tische und Stühle. Im Unterricht, der aus ein paar kurzen Liedern und Fingerspielen, einem Rätsel und freier Mal- und Bastelzeit besteht, fällt es manchen Kindern jedoch schwer, stillzusitzen und sich auf eine Sache zu konzentrieren. Andere dagegen sind sehr ruhig, und wehren sich gegen jede Art von Zuwendung. Diese Kinder sind es, die mir nach einiger Zeit ihr Vertrauen schenken. Wahrscheinlich, weil ich mich mit ihnen nicht auf Portugiesisch unterhalten kann, sondern mit Gesten und Blicken mit ihnen kommuniziere und sie dadurch nicht einschüchtere. Als ich nach einiger Zeit dann doch etwas Portugiesisch kann, freuen sie sich und lachen über meine Aussprache.

Nach einer kurzen Spielzeit im Innenhof gibt es Mittagessen. Die Kinder dürfen selbst wählen, was sie essen, aber da sie bald wieder aufstehen, um weiterzuspielen, landen Reis, Bohnen, Fisch und Salat im Abfall. Ich habe das Gefühl, dass sie kaum etwas gegessen haben, aber die Erzieherinnen meinen, die Kinder seien einfach schlecht erzogen, das sei hier immer so. Mittlerweile sind die älteren Schüler von der Schule gekommen und werden wild von den jüngeren begrüßt, welche sich daraufhin ungeduldig vor dem Tor zur Straße versammeln. Manche von ihnen gehen jetzt nach Hause, andere zur Schule. Sie fragen mich, was »ciao« auf Englisch heißt, und bald höre ich, wenn ich das Projekt nachmittags verlasse, von allen nur noch »bye bye!«

Wenn Hygiene und Regeln Initiativen behindern

Ich habe das Glück, in Botucatu einige Deutsche aus São Paulo kennenzulernen, die in der Favela »Monte Azul« ihr Freiwilliges Soziales Jahr machen. Von ihnen werde ich für ein paar Tage in die Großstadt eingeladen, wo ich weitere soziale Projekte kennenlerne und an denen ich auch mithelfen kann. Eines dieser Projekte heißt »Aramitan« und liegt am Rande der Stadt. Die Bahn- und Busfahrt dorthin dauert vom Zentrum aus mindestens zwei Stunden, aber das ist in São Paulo so üblich. Wir – eine Gruppe von zehn Freiwilligen – wurden von Aramitan eingeladen, um dort Wände zu streichen und andere Arbeiten zu erledigen. Das Gebäude ist sehr groß, jedoch an manchen Stellen noch nicht fertiggestellt. Der Leiter des Projekts erklärt, dass das Haus ursprünglich einem reichen Brasilianer gehörte, der es jedoch aus finanziellen Gründen nicht zu Ende bauen konnte und es dann günstig an einen Sozialarbeiter verkaufte.

Seither bauen ausschließlich Freiwillige an diesem Haus, nun schon fast zwölf Jahre lang. Und obwohl es kurzzeitig schon eröffnet war und als Jugendhaus und kulturelles Zentrum für die umliegenden Favelas diente, musste es aus Sicherheitsgründen wieder geschlossen werden. Hier und da fehlen nämlich noch Feuerlöscher, Geländer und Schilder, die die Fluchtwege markieren sollen. Ich finde zwar, das sind keine Gründe, um solch ein Projekt zu schließen, aber die Regierung in São Paulo hat manchmal seltsame Regeln: Teilweise muss das Essen hier in den Kindergärten sogar vor dem Servieren in Chlor eingelegt werden, um Krankheiten vorzubeugen. Es macht dennoch sehr viel Spaß, in den sozialen Projekten zu arbeiten, da man immer freundlich empfangen wird und alle mit anpacken. So schaffen wir es an einem Nachmittag, alle Feuerlöscher zu markieren und einige Zimmer zu streichen. Währenddessen wird natürlich laut brasilianische Musik gehört und Kaffee getrunken, der, wie für Brasilien typisch, fast genauso viel Zucker wie Kaffee enthält.

Am Ende meines Aufenthaltes in Brasilien bin ich sehr zufrieden. Die Stadt São Paulo hat mich wegen ihrer Größe und kulturellen Vielfalt sehr beeindruckt und war ein faszinierender Kontrast zu der Idylle auf der Demetria. Insgesamt haben Brasilien, seine Kultur und seine gastfreundlichen Menschen, einen prägenden Eindruck hinterlassen. Und ich werde es vermissen, nicht mehr in den Garten gehen zu können, um dort frische Maracujas zu sammeln.

Zur Autorin: Helen Britt hat die Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart bis einschließlich der 11. Klasse besucht und absolviert jetzt ihr Abitur in Freiburg bei Methodos, einem Verein für selbstständiges Lernen, der ausschließlich von Schülern organisiert wird (www.methodos-ev.org)