Erzählen und erzählen lassen

Arnica Esterl

Nichts Besonderes habe ich gemacht. Mein Bruder hat bei der Heuernte geholfen und ich habe mit meiner Puppe gespielt. Soll ich das etwa erzählen? Mit dem Mut der Verzweiflung fange ich an zu schreiben, mit dem Griffel auf einer Schiefertafel: »In den Ferien hat auf dem Nachbarhof eine Kuh gekalbt. Das ist nicht normal. Kälber werden im Frühjahr geboren und nicht in den Sommerferien. Also kam der Kälberarzt und ich habe zugeguckt!«

Gerade will ich ansetzen und Einzelheiten beschreiben, da sagt der Lehrer: »Halt. Und jetzt weiter mündlich erzählen. Ihr dürft auch alle durcheinander reden.« Das lassen wir uns nicht zweimal sagen, denn wir haben ja ein Thema gefunden. Also erzähle ich die Einzelheiten, spare nichts aus. Ob er es hört? Acht Kinder reden durcheinander. Er lässt sich nichts anmerken, sagt nur nach einiger Zeit: »Und jetzt schreibt ihr den Schluss des Aufsatzes wieder auf die Schiefertafel.« Das ist leicht, nur ein, zwei Sätze. 

Das Dorfleben als Stoffsammlung 

Den Trick dieses Lehrers habe ich nie vergessen. Er unterrichtete in der Dorfschule, immer drei Klassen auf einmal. In den meisten Haushalten stand die Bibel im Regal und die wurde auch gelesen, meist sogar vorgelesen. Jeden Tag drei oder vier Verse. Und in der Schule wurde jeden Tag aus der Bibel erzählt, als wären es alltägliche Geschichten. Sonst gab es (fast) keine Bücher, auch keine Kinderbücher. Aber es wurde lebhaft geredet, erzählt, getratscht, kolportiert, gespielt. Das pralle Dorfleben lieferte täglich Stoff. Und dieses Leben fing der Lehrer ein, indem wir es auch in der Klasse erzählen durften und sollten. Dann aber verlangte er eine Schiefer­tafel voll mit Buchstaben, mit Worten und zusammenhängenden Sätzen. So brachte er uns bei, einen »Aufsatz« zu schreiben. Und zu guter Letzt mussten dann einige Schüler ihren Text vorlesen.

Wirklich einschätzen können wir die Leistung dieses Lehrers aber erst, wenn wir bedenken, dass meine Mitschüler nicht in ihrer Muttersprache sprechen und schreiben durften.

Sie sprachen außerhalb der Schule immer ein waschechtes Friesisch – eine eigenständige germanische Sprache. In der Klasse wurde aber pflichtmäßig und ausschließlich Holländisch geredet und geschrieben. Und die Erstklässler taten sich damit wirklich schwer. Der Lehrer war kein Friese, spielte »kannitverstaan«, wenn jemand versuchte zu mogeln. Der Erfolg gab ihm Recht. Wenn damals auch nur wenige Schüler aufs Gymnasium wechselten (in den Nieder­landen nach der 7. Klasse), so konnten doch alle später die fürs tägliche (Berufs-)Leben notwendigen Texte schreiben, lesen und sprechen. Statistiken gab es noch keine, aber der Prozentsatz derjenigen, die niemals ein Buch lasen, muss hoch gewesen sein. Trotzdem waren sie an allem und jedem interessiert. Sie konnten und durften sprechen! 

Der Fernseher tritt auf 

40 Jahre nach dem Krieg war ich wieder dort, da die Schule ein Jubiläum feierte. Auf den ersten Blick hatte sich wenig verändert. Viele ehemalige Kameraden waren noch da oder lebten ganz in der Nähe. Aber der kleine Dorfladen war verschwunden, der Fußweg in die Schule war einer mit Auto befahrbaren Landstraße gewichen und der Fußgängersteg über den Kanal war eine breite Brücke geworden. In jedem Haus stand ein Fernseher, man hatte Anschluss an die Welt bekommen.

In diesen siebziger Jahren zogen Feldforscher über Land und sammelten die noch frei erzählten Geschichten. Hatte der Fernseher die Kommunikation zwischen den Menschen verringert? Der friesische Professor Jürgen van der Kooi stellte in seiner Dissertation das Gegenteil fest. Es wurde mindestens so viel geredet, erzählt und geklatscht wie früher, nur waren andere, neue Themen dazugekommen. Der offizielle Typenkatalog der erzählenden Zunft mit Märchen, Sagen und Legenden musste erweitert werden. »Moderne« Sagen (persönliche Erlebnisse, die kolportiert werden), Anekdoten, Spukgeschichten, Lügenmärchen und Witze waren dazu gekommen. Ype Poortinga, der Leiter der friesischen Akademie in Leeuwarden, gab zwischen 1976 und 1981 in sieben Bänden mehrere Tausend solcher Geschichten heraus, die er mit dem Kassettenrecorder gesammelt hatte. Gelesen wurden diese Bücher allerdings kaum, schon gar nicht auf Friesisch. Es wurden nicht mehr Bücher gelesen als früher, der Kontakt zwischen den Menschen hatte nicht gelitten. Nur erzählten sie sich jetzt den Inhalt von Filmen, Tagesthemen und Sportergebnisse. 

Als das Wünschen noch geholfen hat 

Um diese Zeit fing ich in Stuttgart an zu erzählen, Märchen aus aller Welt: »In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat ...« Es hieß, die Lage sei dramatisch. Die Eltern und Großeltern würden nicht mehr vorlesen, die Kinder könnten nicht zuhören, Fernseher, Schallplatten und Kassetten hätten Überhand genommen und das Gespräch verdrängt. Ich lernte die Europäische Märchengesellschaft kennen, deren Erzählerinnen und Erzähler durch die Kindergärten und Schulen zogen. Wir zählten nicht Defizite, wir erzählten Märchen und Sagen. Und alle hörten zu! Die Kinder kannten bemerkenswert viele Märchen. »Von der Kassette«, wie sie zunächst sagten, um dann gelassen den Kopf auf die Bank zu legen, bis es vorbei wäre. Aber schon nach wenigen Worten schauten sie auf: »Die hat ja keinen Recorder und keinen Bildschirm und es lohnt sich trotzdem zuzuhören.«

Erstaunte Lehrer berichteten, wie die Schüler nach der Stunde, oft der ersten Erzählstunde, die sie je erlebt hatten, begeistert forderten, weiterhin erzählt oder wenigstens vorgelesen zu bekommen und vor allem, selbst schreiben und somit selbst erzählen zu dürfen. Die Bilder in den Märchen, Phantasiegeschichten, Schwänken hatten sie angeregt und es kamen Hefte voller »Aufsätze« zusammen. Nur waren Lehrer, die dann selbst weiter erzählten, leider eine Seltenheit. Denn die Lehrerinnen und Lehrer blieben skeptisch. Während einer Märchenwoche 1990 in einer Grundschule mit zwei Erzählstunden und einem Workshop in jeder Klasse und einem Figurenspiel für alle, protestierten die Lehrerinnen der 4. Klasse, dass nun die dringend notwendigen Deutschstunden für die Klausurarbeiten fehlen würden. Nach der Projektwoche gaben sie zu, dass die Schüler in den wenigen Tagen mehr Deutsch gelernt hätten als in einem Monat Büffelei. Wir – der Stuttgarter Märchenkreis – durften wiederkommen. Auch die Erzählstunden in den Klassen für Schüler, die gerade anfingen, Deutsch zu lernen, waren sehr effektiv.

Außerhalb der Schule wurden damals klassische Märchen gelegentlich in die Umgangssprache, den Jargon der Jugendlichen umgesetzt und gedruckt. Wenn ich es fertig brachte, eine solche Färbung in Grimmschen Märchen mit Ausdrücken wie: »das ist der totale Hammer« oder »alles ist paletti« auswendig vorzutragen, erntete ich den lautesten Applaus. Trotzdem wurden diese Varianten nicht weitergetragen. Die Schüler konnten lachen und den Stilbruch sehr wohl unterscheiden! Auch Kanaksprak oder SMS-Kürzel sind Hilfsmittel, die zunächst den Kontakt aufrecht erhalten können und sich später zum richtigen Sprechen erweitern lassen. 

Ungebrochene Erzählfreude 

Als der WDR 1996 nach seiner Neujahrssendung mit Märchen im Radio die Zuhörer aufforderte, bis Ostern selbst erdachte Geschichten einzusenden, wurden weit mehr als zweitausend Texte gesammelt. Alle wurden gesichtet. Die ganze Skala der Möglichkeiten von nacherzähltem Altem und Bekanntem bis zu der phantasie­vollen Darstellung neuer Bilder und Abenteuer war vertreten. Mythische Dich­tungen, wundersame Verwandlungen, Anekdoten, Witze, Anhaltergeschichten, Online-Erlebnisse, Märchen und Träume für Jung und Alt waren von Teilnehmern zwischen acht und 80 Jahren aufgeschrieben worden. Elf erste Preise wurden vergeben, die ein Jahr später in einem vollen Studiosaal vorgetragen wurden. Die Medien hatten zwar  die Aufgabe übernommen, Dichtungen, Fabeln, Märchen zu den Menschen zu bringen. Trotzdem war der Wunsch nach mündlicher Erzählung ungebrochen. »Es war einmal ...« und der Saal wurde still, es herrschte gespannte Erwartung. Alle wünschten zuzuhören – um dann selbst erzählen zu können.

Jährlich wurden und werden nun immer mehr und schönere Bücher herausgegeben. Aber solange sie nicht in das gesprochene Wort umgesetzt werden oder als beliebtes Sachbuch zu eigener Arbeit anregen, sind sie für viele Kinder uninteressant. Dazu braucht es keine Statistiken. Dazu braucht es eine Verbindung zwischen allen Familienmit­gliedern, Wahlverwandten, Erziehenden, Altersstufen und Kulturen.

»Oma, erzählst du ...?« Wie eine Zitrone haben die Enkel mich ausgepresst, aber die selbst erfundenen Geschichten und Sprachspielchen vom Großvater waren und sind noch beliebter. 

Selbst das Internet schadet nicht 

Menschen kommunizieren zunehmend durch Lesen und Schreiben, immer weniger durch Sprechen. Wir verständigen uns per E-Mail, Twitter, Facebook, Chatten und so weiter. Es gibt keine Griffel und Schiefertafeln mehr. Längst hat der Übergang von der Handschrift über die Schreibmaschine zum Computer, zu SMS & Co. stattgefunden. Aber die digitale Welt konnte die Freude am Schreiben und Erzählen oder Mitteilen nicht stoppen. Peter Glaser schreibt in der Stuttgarter Zeitung vom 22. Dezember 2010: »Seit langem ist nicht mehr so viel und vergnügt mit Schrift und Sprache experimentiert worden wie in unserer zunehmend digitalen Kultur«.

Wenn wir wollen, dass wieder mehr wirklich gesprochen und erzählt wird, dann müssen wir eine Fähigkeit entwickeln, die ebenfalls immer seltener wird: dem anderen Menschen – vor allem den Kindern und Jugendlichen – zuzuhören. 

Zur Autorin: Arnica Esterl ist Mutter, Großmutter, Märchenerzählerin und Autorin, und lebt seit 1963 in Stuttgart. 

Literatur:

Arnica Esterl: Die Märchenleiter: Welches Märchen erzähle ich meinem Kind?, Stuttgart 2002
Jurjen van der Kooi: Volksverhalen in Friesland, lectuur en mondelinge overlevering, Groningen 1984
Ype Poortinga: Fryske folksverhalen, Ljouwert 1976 

Links:

www.maerchen-emg.de | www.maerchenkreis.de