Lesereise

Ute Hallaschka

Lesen ist fraglos eine Aktivität, die erhöhte und konzentrierte  Anwesenheit fordert. Lesen geht nicht, ohne dass ich dabei bin. Wer nur die Augen über die Schrift wandern lässt, dem entzieht sich ihr Sinn. Was im puren Wahrnehmen in Bezug auf Bilder mühelos funktioniert – irgendwie kommen sie in mich rein, ob ich nun bewusst dabei bin oder nicht –, das geht bei der Schrift nicht. Es braucht meinen Willen und er muss aufrecht erhalten werden. Sonst verschwimmt die Schrift vor meinen Augen, sonst habe ich keinen Zugriff mehr auf das, was ich vor mir sehe. Es ist nahezu Alchimie: Lesen (er)löst Leben aus schriftlicher Fixierung. Sonderbarerweise kann dies auf den Leser zweifach zurückwirken: Er kann wach oder müde werden – manchmal beides gleichzeitig. Ein Teil der Seele wird immer vitaler, während der andere sich mit letzter Kraft hinter dem Antreiber herschleppt. Eine bekannte Kindheitsszene: heimlich bei Nacht unter der Bettdecke, halb erstickt, mit letzter Sinneskraft sich gegen die Ohnmacht wehrend, immer weiter einverleiben, was da im Buch geschrieben steht. Fesselnde Lektüre heißt nicht umsonst so.

Wie nie zuvor in der Buchgeschichte tendiert alles Geschriebene, Fachbuch, Fantasy-Roman oder Krimi zu werden. Was jedoch Literatur eigentlich auszeichnet, liegt jenseits aller Gattungen und hat mit der oben erwähnten (Er)lösung zu tun. Wo Wille und Verstehenskräfte gleichermaßen gefordert sind, gibt es einen Spielraum der Freiheit und folglich auch ihrer Gefährdung.

Es gibt eine Art zu lesen, die wirkt wie Gift. Bis ins Körperliche kann einem übel werden, wenn man liest wie ein Scanner. Also unverdaut, unverstoffwechselt, mit vollem Bewusstsein sich Schriftliches reinzieht. Es wird förmlich fühlbar, wie sich das Überfressen zwischen Hirn und Bauch abspielt. Der Schriftsteller Peter Handke hat sich einmal ein monatelanges Zeitungsfasten verordnet. Lesen ist in virtuellen Zeiten keineswegs an sein Ende gekommen. Allerdings hat es sich am »Bildschirm« – welch phantastisch bedeutsame Metapher – stark verändert. Es gleicht eher einem Entziffern, was auch schon wieder ein Rätsel darstellt: Entziffern von Schrift, die doch aus Lettern und nicht aus Zahlen besteht – so wenig wie Erzählen etwas mit Berechnen zu tun hat. 

Ausflug in die Kindheit 

Machen wir auf der Suche nach dem Mysterium der Rede und Schriftsprache einen Ausflug in die Kindheitserfahrung, das lohnt immer.

Wie war das, als wir noch nicht lesen konnten und es doch so gerne lernen wollten – oder etwa mussten? Letzteres ist eigentlich nicht denkbar, jedenfalls nicht ursächlich. Nicht vorstellbar, ein Kind, das sprechen kann und sagt: Ich will nicht Lesen lernen. Da muss schon etwas vorausgegangen sein, wenn es zu dieser Verweigerung kommt. Wie das Kind das Lernen erfährt und ob es das Gelernte dann später ausüben will, das hängt davon ab, was im Prozess der Schriftaneignung erlebt wird. Auf jeden Fall wollen Kinder im entsprechenden Alter vorgelesen bekommen. Ein Wunder, wenn der Vor­-leser ein Erzähler ist und die Geschichte auswendig, aus dem Gedächtnis sagen kann. Schöpferisch wie eine aktuelle Entstehung. Was tut aber der Erzähler anderes, als ihn ablesen aus seiner Erinnerung? Das wird das Kind tiefer beeindru­cken und bilden, als wenn vom Blatt abgelesen wird. Wer das nicht schafft, aus Zeit oder Kraftgründen, der soll guten Gewissens wenigstens Vorleser sein. 

Sprache erschließt die Welt 

Das Geheimnis dieses inneren Bildeprozesses hat viele Schichten und Stufen. Man kann sich auch, während man Gedrucktes liest, gleichzeitig davon emanzipieren und es so verlebendigen.

Die Lust, lesen zu lernen, speist sich in der Kindheit aus einer viel urspünglicheren Erfahrung: Sprache erschließt Welt. Zuerst die eigene, das eigene Ich im gesprochenen Wort. Es wird augenscheinlich, so wie beim Laufen lernen, triumphal die Aufrichtekraft der eigenen Person erlebt, wenn Sprache sagt: Ich bin. Dieses Geschenk des Lebens, die Zueignung der Welt als Urerfahrung, bereitet die nächs­te Abenteuerstufe vor. Lesen ist der Schlüssel zum Wort des andern, über alle Raum- und Zeitgrenzen hinweg. Der eigene Sprachraum wird erweitert und zugleich verankert in der gemeinsamen Menschenwelt. Ein überzeitlicher Anker im Weltraum. Man kann darin verlorengehen oder sich finden. Auf jeden Fall ist dieses kosmonautische Verlangen identifizierbar vorhanden in der heranwachsenden Seele. Heute vielleicht bereits verschüttet, zugemüllt auf der Deponie der Bilder und Hebelwirkungen. Möglich, dass es als terra incognita erst entdeckt werden muss, je nachdem, was dem Kind zuvor entgegenkam aus der Wortwelt seiner Umgebung. Ob Wort als Wachstumskraft erlebbar war, als Weg und Lebensmittel oder nur als Zierrat, Beiwerk, intellektueller Schaltknüppel – bis hin zum Gift.

Es ist schwer, die Sprache ernst zu nehmen in ihrem spielerischen Sein, wenn man kein Kind mehr ist. Es ist noch schwerer, sie selber wahrzunehmen, ohne ihr etwas zu unterstellen, damit sie deutlicher erscheint. Genau an dieser Stelle liegt das Problem der Rede, der Erzählung, der Lese. Man muss sich selbst über den Weg trauen, den eigenen Worten zutrauen, in der Sphäre der Wahrhaftigkeit, der Wirksamkeit und des Lebens angesiedelt zu sein. In einem tieferen Sinn, als man alltäglich meint. Was immer ich meine, wenn ich rede, lässt sich doch unterscheiden, ob ich im Wortsinn wahr rede oder nicht, ob ich anwesend bin als Person, in dem, was ich sage. Falls nicht, ist´s gelogen. Wahrheit als Anwesenheit des Gesagten erfordert mein Dasein. Sprechen und Lesen als ein Akt der Würdigung des Menschseins, das ist sicher eine gewöhnungsbedürftige Auffassung und sie braucht Übung. Sobald ich mich in dieser Übung aber wieder einrichte im selbstgefälligen Vollzug, bin ich schon wieder jenseits der Rede. Kein noch so hoher und feiner Gedanke erwürdigt mich im menschlichen Miteinander, im Prozess der Sprache. Selbstgenuss im Wort des Schriftgelehrten ist wenig erbaulich. Wie der Schriftkundige die festgehaltene Sprache freilässt, indem er sie ins Bild setzt, ist eine Verhältnisfrage zwischen Sprechern und Hörern. 

Wer wünschte sich nicht, sein Schicksal zu lesen 

Wer wünschte sich nicht, sein eigenes Schicksal lesen zu können. Und das wäre doch etwas anderes als pure Information, Kenntnisnahme, Wissen. Leseprozesse brauchen Erinnerungsvermögen ebenso stark wie Zukunftsentwurf, sie erscheinen wie ein tätiges Innehalten der Seele zwischen diesen beiden Zeitpolen. Ich gehe lesend hinaus über Buchstaben, Worte, Sätze, ich erfasse Sinn und bilde Gestalt, indem ich mich in einen Zusammenhang vortaste, noch ehe ich ihn als Ganzes sehe. Ich entwerfe ihn aus mir. So erfahre ich Sprache als Gegenüber – auch wieder ein strapaziöses Wort, wenn man es wörtlich nimmt. Darin ist Bewegung zusammengespannt, die rein begrifflich nicht ohne Weiteres zusammengeht, aber Sprache kann das, was uns im Kopf solche Mühe macht. Das, was ich bin, indem ich Wortwesen bin – also Ich –, liegt mir sprachlich gegenüber vor im Du.

Der Inhalt des Gelesenen ist quasi der Rahmen für diese Erfahrung, wenn ich selber lese. Tut es ein anderer für mich, dann erzählt er von dieser Erfahrung. Nichts anderes wollen wir letztlich mit Sprache tun: sie soll uns dienen, uns selbst auszusprechen im Wir. Das scheint heute schwerer denn je. Alles ist sagbar und beinah nichts mehr darin erfahrbar. Es fordert einen umso schöpferischeren Umgang mit dem eigenen Wort. Es wächst darin immer mehr Verantwortung zu. Ich bin vollständig verantwortlich für meine Aussage, niemand kann sie mir abnehmen, niemand mich entschuldigen für das, was ich sage oder nicht sage. Keine Zeitung und keine Macht der Welt, an die ich meine Wortlaute delegieren könnte. Diese Unerbittlichkeit, die das Internet verzerrt spiegelt – Wort einmal gesagt, geschrieben, gelesen, geht nicht mehr weg – wird uns zunehmend bewusst. 

Wenn Papa, trotz Glatze, »schnatzen« kann, dann wird das Kind ruhig schlafen 

Wenn ich nun sage, dass es für ein Kind gut ist, Märchen zu hören, dann nützt es mir gar nichts, dass Rudolf Steiner das auch schon gesagt hat. Ich muss diese Aussage wahr machen. Das kann ich nur, wenn ich mich konkret auf meine Selbsterfahrung im »Textkörper« einlasse. Was tut meine Phantasie in mir, wenn ich dem Vorgefundenen begegne? Im Fall des Märchens bewege ich mich real in Bildern. Es ist ein unsichtbares Schauspiel, das sich ereignet, die Bilder inspirieren mich, ich gebe sie intuitiv weiter im Erzählen. Was soll das Folgende heißen?

»Weh, weh, Windchen, nimm Kürdchen sein Hütchen, und lassn sich mit jagen, bis ich mich geflochten und geschnatzt, und wieder aufgesatzt.«

Es stellt sich nicht automatisch Sinn ein, an dieser Stelle aus dem Grimmschen Märchen von der Gänsemagd, abgesehen davon, dass es letztere auch nicht mehr gibt in dieser Form. Hier kann die Seele nicht wie eine Satellitenschüssel auf Knopfdruck Bilder empfangen. Was soll das also heißen und wie soll es sinnvoll sein? Ich muss das irgendwie verwirklichen, muss es tun, damit es sich einstellt. Wenn nun aber Papa das Märchen erzählt, der vielleicht nicht mehr allzuviele Haare auf dem Kopf hat, was dann? Dann wird es richtig lustig und zugleich sehr ernst. Falls Papa, trotz der Glatze flechten, schnatzen und aufsatzen kann, dann wird das Kind ruhig schlafen können. Guckt er dagegen lieber schnell bei Wikipedia nach, was das Ganze eigentlich zu bedeuten hat, dann hängt es immer noch davon ab, was er dazu sagt. Das Netzwerk der Sprache verbindet oder trennt ab. Ob es Leben, Weg, Wahrheit wird, das entscheidet sich jeden Augenblick neu. Wer als Erwachsener versucht, sich auf die Seinsweise des Sprachlichen einzulassen, der kann die Kindheitskräfte, das Vitalvermögen der eigenen Seele neu entdecken.