Phrasen dreschen: die Entseelung des Denkens und Redens

Michael Kalisch

Manches in unserer Alltagssprache macht mich besorgt, ja sogar zornig: der Zynismus im Journalismus, der phrasenhafte Sprichwörterjargon in der Politik – das Ersetzen deutscher Begriffe durch angloamerikanische, was zuweilen nur eine substanzielle Dürftigkeit bemäntelt, oder die Einschränkung »erwünschter« seelischer Zustände durch die vorgegebene Durchschnittstemperatur der »coolness«. Vieles verbirgt einfach eine zunehmende Entseelung des Denkens und Redens. 

Sprache ist kein Naturphänomen; ihre Veränderungen sind Symptome historischer Entwicklungsprozesse des Bewusstseins, Sprache und Bewusstsein sind engstens miteinander verbunden. Ich »spreche mit mir selbst«, indem ich mir meine Seeleninhalte bewusst mache, und teile sie sprechend mit einer Gemeinschaft, deren Inhalte (Meinungen, Ideen, Ziele) durch Sprache wiederum Inhalt meines individuellen Seelenlebens werden. Worte lenken das Bewusstsein – und sie können auch in die Irre führen, verführen.

Metaphern und Imaginationen

Ein wesentliches Element der Verständigung sind Analogien, Metaphern, Bilder. Wie gehen wir damit um? Es fällt auf, dass Analogien zwischen Kulturphänomenen und Lebensphänomenen seit langem beliebt und eingängig sind: der Staat ein Organismus, das Gehirn ein Computer…

Als Ersatz für das Charakterisieren einer Sache oder für einen durchdachten Begriff plustern sie die Sprache mit etwas Leerem auf. Ohne Verantwortung dafür zu übernehmen, ob ich die Zusammenhänge verstanden habe – solche Analogien sind selten wirklichkeitsgemäß –, kann ich mich ihrer bedienen. Sie verbreiten im Kollektiv eine Aura von Bedeutungen und Bewertungen, werden zum Gerücht, das sein »Eigenleben« entfaltet. Das hat eine korrumpierende Wirkung auf das Denken – Wahrheit, Halbwahrheit und Irrtum verschwimmen ineinander. Ist das Gehirn nicht vielleicht doch ein Computer? Was war noch der wesentliche Unterschied zwischen beiden? – Begriffe werden unscharf, die Vorstellungen verwässern.

Tiefer als oberflächliche Analogien gehen komplexe Bilder. Das Bild leistet etwas Wesentliches: mit ihm können komplexe Zusammenhänge durch Verweis auf ein Ähnliches in ihrer Ganzheit erklärt werden, wenn das Bild »treffend« ist. Bilder sind wunderbare heuristische Instrumente, um etwas in die Tiefe zu durchleuchten. Die erste Form übersinnlicher Erkenntnis tritt in Gestalt von Bildern auf – Rudolf Steiner nennt sie Imaginationen. Bilder geben die Gewissheit, dass die Welt »aus einem Guss« ist, dass sich das Eine im Andern wiederfindet und spiegelt. Das »Bild« genießt deshalb eine große Wertschätzung – denken wir nur an Märchen, Mythen, Lyrik. Aber es gibt eine Kehrseite, nämlich die Versuchung, »wohlfeile« Bilder einem diskursiv entwickelten Gedanken vorzuziehen – da dieser Anstrengung abfordert.

Es ist eine historische Entwicklung, dass der neuzeitliche Mensch im Oberbewusstsein sein Geist-Sein immer mehr ableugnete. Aber das Unterbewusstsein? Es will, es muss sich umso mehr an Bildern sättigen. Denn Bilder durchströmen die Seele mit Leben, abstrakte Gedanken verlangen ihr etwas ab und ermüden. Gerade »ganzheitliche« Metaphern können einem vorgaukeln, dem Geistigen, der wahren Realität näher zu kommen als durch Abstraktes. Ein »Hunger nach Bildern« zeichnet unsere Zeit daher aus: unübersehbar. Er prägt den Zeitgeist bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts – in Verbindung mit einem Überdruss am »zersetzenden Intellekt«, was eigentlich ein Reflex auf die Hohlheit der Sprache, das Unreal-Schattenhafte der Abstraktionen ist. So wird begreiflich, wie der Nationalsozialismus seine Massenwirkung durch den geschickten Einsatz von Schlagworten, Bildern und Symbolen entfalten konnte, die umso wirksamer waren, je weniger sie von denkenden Menschen reflektiert wurden. Ein neuer »Mythos« wurde geboren, gewaltsam. Die Hohlheit wurde unendlich vermehrt, gefüllt mit einem Fluidum aus Rausch und Lügen.

Eine parallele Entwicklung erscheint völlig konträr: Es entwickelte sich geradezu eine Sucht nach Abkürzungen, indem Gruppen von Hauptwörtern sozusagen »geköpft« und aufgefädelt wurden: K.P.D., Kom/intern, Stu/ka, S.S. … Übersteigerte Abstraktionen, Kunstworte für politische, militärische Gebilde, geeignet fürs Einhämmern und Skandieren durch ihren harten Eigenrhythmus. Tauglich auch zur Benennung neuer Götzen, die wie hinter Glas unnahbar, aber furchteinflößend sein sollten. Hier ging es nicht um Bild-Wahrheit, sondern um Wirkung; ein willkommenes Mittel totalitärer Massenlenkung durch geistige »Gleichschaltung« – wiederum mittels der Sprache.

Für eine säkulare Zeit, der die »große Erzählung« und jede Rück-Bindung verloren gegangen war, versuchten J.R.R. Tolkien und sein Freundeskreis in England seit den 1930er Jahren neue Mythen zu erfinden – aber in poetischer Form. Tolkien, der die keltischen Sprachen intensiv studierte, schuf in seiner Trilogie »Herr der Ringe« eine ganze Weltmythologie mit eigenen Sprachen und Schriften für die Völker, die »Mittelerde« in seinem Roman bevölkern. 

Vom Konkreten zum Abstrakten

Können wir überhaupt anders, als abstrakt sein: sprechend auf Begriffe hinweisen, wobei der »Wortkörper« selbst keinerlei Bezug auf konkret Wahrnehmbares mehr hat? Wie diese Lautgebilde einmal entstanden, entzieht sich völlig dem Bewusstsein. Selbst unsere Wortdeutungen haben sich vom ursprünglichen Sinn zuweilen weit entfernt. – Es ist wohl die Beschreibung eines allgemeinen Kulturzustands: Während das Sprechen als unbewusster Willensvorgang parallel abläuft, leben wir innerlich ganz im Gedanken.>Aber anders wären Kulturen nie dazu gelangt, Gedanken zu philosophischen Gebäuden aufzuführen! Ohne dieses Abstraktwerden hätte man nie Naturgesetze formulieren und daraus technische Erfindungen ableiten können. In gewisser Weise wurde der Gedanke ein Leichnam, das Wort ein Sarg.

In unserer Alltagssprache klafft also etwas zwischen dem Inhalt der transportierten Gedanken und dem »Sarg« Wort. Das in diesem Leerraum Transportierte messen wir nur noch als Informationsgehalt. Das Wort ist nur Verpackung, die »weggeworfen« wird.

So war Sprache in ihren Anfängen nicht: Sie war konkret. Nach den Erkenntnissen einer geisteswissenschaftlichen Erforschung der Sprachenentstehung entsprangen Worte nicht aus der äußerlichen Lautmalerei des »Wauwau-oink-oink«, sondern aus einem instinktiven Empfinden der Formkräfte in den Objekten, was sich in bestimmten Folgen von Konsonanten Ausdruck schuf, während sich in Vokalen mehr das eigene Gefühlsverhältnis zum Objekt ausdrückte. Im Laufe langer Zeiträume kam es zu Lautumwandlungen, Verschleifungen, Verkürzungen. Dabei konservierten die Sprachen der indogermanischen Familie im Zusammenhang mit der geographischen Differenzierung verschiedene Lautverschiebungsstadien. Jakob Grimm gehört zu den Entdeckern ihrer Gesetzmäßigkeiten (th/ð→d→t- …, k→g→ch-… usw.) Das Deutsche durchlebte außerdem mehrere Phasen des Eindringens und »Aufsaugens« fremder Sprachen – des Lateins während der Christianisierung, Jahrhunderte später des Französischen, zuletzt des Englischen.

Schon die verschiedenen Entwicklungsstufen eines Wortes lassen uns staunen, ja, ehrfürchtig werden: Welche Metamorphosen haben sich vollzogen! Fragen < frahen (mittelhochdeutsch), niederländisch: vraagen (g = stimmhaftes ch) < freh- (germanisch), entsprungen aus einem (rekonstruierten) indogermanischen prek-, prk-, das mit forschen verwandt ist.

Warum lautet das lexikalisch Gleichbedeutende sogar in verschwisterten Sprachen so anders – oder ist es gar nicht das Gleiche? Im Englischen haben wir: to ask (fragen, sich erkundigen, bitten, einladen, fordern …), to question (← lateinisch: quaestio, Suche, Frage, gerichtliche Untersuchung…) to interrogate (← lateinisch: Frage, Befragung, Verhör…). Welcher Gestus steckt in dem germanischen, mittelhochdeutschen sowie niederländischen Wort? Es strebt in die Luft (h, ch) wie wehen oder fahren, oder wagen: in den Umkreis, um ihn zu erforschen. To ask (an eine Grenze stoßend: k, wie der vermutete indogermanische Stamm) und erst recht die lateinischen quaerere und interrogare beziehen sich auf den zwischenmenschlichen Bereich! Zwei verschiedene Arten der Weltzuwendung.

Worte enthüllen sich als plastische Bilder der konstituierenden Kräfte der Welt und menschlicher Tätigkeit. Man ahnt, dass tief unter dem Bewusstsein Entwicklungskräfte in der Sprache gewirkt haben müssen. – Und vergleicht man geographische Variationen (spanisch-portugiesisch), so fragt man sich: Hat nicht die Landschaft atmosphärisch die Sprachen stark beeinflusst? Warum sind Sprachen am Meer oft verschleifend, nasal (französisch, portugiesisch, dänisch), »Gebirgssprachen« kantig, härter (schweizerisch, spanisch)? Aber warum ist das Österreichische doch anders? 

Von Deutsch zu Denglisch

Dass die umbildenden und einverleibenden Kräfte im Laufe der Geschichte abgenommen haben, zeigt der Vergleich der während der Christianisierung eingeführten lateinischen Stämme, die so vollkommen assimiliert wurden, dass wir sie für Deutsch halten: Meister (magister), Schule (scola), Prediger (← praedicere), Tafel (tabula) … Die mittelalterlichen französischen Fremdworte wurden schon weniger angeglichen – und die englischen etwa seit der Industriellen Revolution blieben, wie sie sind. Dieser Vorgang ist psychologisch verständlich: Durch die Aufnahme englischer Worte vor allem aus dem Bereich von Wirtschaft und Handel wurden der »deutschen Abstraktheit« neue Kräfte eingeflößt. Nach 1945 geschah die »Anglisierung« wohl auch aus schamhafter Selbstverleugnung, man wollte kundtun: »Wir sind modern!« Inzwischen sind wir postmodern … Computertechnik und Globalisierung brachten einen weiteren Anglisierungsschub – und einen weiteren Verfall der Wertschätzung des Deutschen, so dass mittlerweile eine Art Mosaiksprache entstanden ist: Denglisch. 

Mittel gegen den Sprachverfall

Das geschilderte »Sterben« der Sprache wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts manchen bewusst, und es führte zu Erneuerungsimpulsen in der Lyrik, im »Dada«, in der Philosophie (Heidegger). Auf einer einsamen Höhe mitten im 20. Jahrhundert steht der in der Bukowina geborene Jude, der Romanistik, Anglistik und Germanistik studierte und in Paris starb, aber deutsche Lyrik schrieb: Paul Celan. Doch wer versteht dieses »Deutsch«! Der Intellekt, obgleich ständig herausgefordert, versagt an ihm, da Celans Sätze ein unablässiger Verstoß gegen den Informationszwang, eine Weigerung sind. Durch seine Art des Fügens von Worten, Bildern, »Chiffren« baut er eine Vorschule der Imagination: zum Erringen einer Kraft, die innerlich gehaltvolle Bilder schafft, die in äußerlichem Sinne absurd sind. Die erdverhaftete Sprache wird »aufgehoben« zu etwas Immateriellem. Ein Heilungs- und Heiligungsversuch an der Sprache. – Der vollkommene Gegenpol zum Sprachzynismus der Nazizeit. 

Was kann also unternommen werden gegen den »Sprachverfall«?

Zwei Vorschläge: in der Oberstufe Wortverwandtschaften und -entwicklungen historisch und geographisch studieren. Als Studienmaterial verdient das Werk Herbert Hahns, eines der ersten Waldorflehrer Beachtung. In den 1960er Jahren verfasst, ist es selbst ein Sprachkunstwerk: »Der Genius Europas«. Es enthält zwölf phänomenologische Porträts von Ländern, Sprachen, Lebens- und Wirtschaftsweisen, reich an Beispielen aus Alltag und Dichtung. Es hat historischen Wert, da es ungeheuer kenntnisreich ein Bild Europas malt, das durch Wirtschaftsunion, Tourismus und Globalisierung verwischt worden ist.

Der zweite Vorschlag ist unangenehmer: aufmerksam zu sein, was ich mit der Sprache tue. Das erfordert eine Schulung des Denkens, nicht allein in Logik, sondern in seiner Anpassung an die Realität; ich muss ein Gefühl entwickeln für wirklichkeitsgemäße oder weltfremde Gedanken. Und ich muss mich auseinandersetzen: Wie drücke ich einen Sachverhalt angemessen aus? Sage ich mehr, als ich eigentlich vertreten kann? Wie denke ich: Purzeln assoziativ verknüpfte »Wortgedanken« hintereinander her, überlasse ich mich Phrasen, wohlfeilen Metaphern? Wer den Bildhunger bedient, trifft auf offene Ohren. Vielleicht muss man darauf verzichten – und lieber »unbequem« reden.