Gute Vorbilder garantieren keine guten Menschen

Hartwig Schiller

Weder exquisite Herkunft, körperliche Vorzüge noch intellektuelle Begabung konnten den labilen Charakter des athenischen Jünglings festigen. Die Beliebig­- keit, mit der er nach Gutdünken und persönlichem Vorteil die Fronten in der Auseinandersetzung zwischen Athen und Sparta wechselte, mal die eine, dann die andere Seite anführend, ist beispiellos. So diente er Jahrhunderte hindurch als abschreckendes Beispiel für die Jugend des Abendlandes, um dadurch eine positive Wirkung – Moral – hervorzubringen.

Galoppierende Inflation des Versagens

Heute ist Alkibiades allgegenwärtig. Wo der Mensch sich Standesethik, vater­ländischer Loyalität und gängigen sittlichen Normen entzieht, ist die individuelle Existenz vorgezeichnet. Überkommene Moralvorstellungen, normierende Kollektivgebote haben ihre Verbindlichkeit für den Einzelnen verloren. Das mag man beklagen oder problematisch finden, an der Tatsache ändert es nichts. Der junge Steiner formulierte bereits 1898 im »Magazin für Literatur«: »Die Menschheit strebt im Anfange der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert; die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von dem Interesse der Verbände und zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen.« Das ist in voller Konsequenz die Absage an den Glauben, die zielbestimmenden Kräfte des Menschen seien tradierbar, genetisch kodiert, konditionierbar oder könnten durch Belohnung und Strafe dirigiert werden. Alle Bestandteile dieses Repertoires blicken auf eine galoppierende Inflation des Versagens. Die Persönlichkeitskräfte des modernen Menschen erweisen sich ihnen gegenüber als resistent. Moralische Orientierung kann sich nur aus dem schöpferischen Potenzial und der Würde selbstbestimmter Verantwortlichkeit konstituieren.

Wovon ein Mensch nicht überzeugt ist, dafür setzt er sich auch nicht überzeugend ein. Moralische Erziehung heute muss also nach den Kräften des Ich als schöpferische, selbstbestimmte und sozial fähige Instanz fragen.

Moralische Erziehung fängt beim Erzieher an

Auf diese Instanz hin kann man jedoch nicht unmittelbar loserziehen. Wesen und Begriff des »Ich« machen notwendig, dass Erziehung eine »Methode des indirekten Wirkens« zu praktizieren hat. »Erziehen« meint nicht hervorzerren. Erziehen bedeutet in diesem Zusammenhang vor allem Respekt, zarte Scheu vor dem Gegenüber und Bereitschaft zum Eingehen auf die autonome Instanz im anderen. Das Ich des Erziehers kann günstige Entwicklungsbedingungen für das Ich des Kindes schaffen, es kann anregen, eingehen, fordern und fördern. Immer hat es dabei aber vor allem auf dessen Eigenständigkeit, seine Selbsttätigkeit zu achten.

Erziehung kennt in diesem Sinn kein Stellvertretertum. Statisten sind da nicht allein arbeitslos, sondern überflüssig.

Moralische Erziehung fängt beim Erzieher und nicht beim Zögling an. Diese Selbstbestimmung ist kein methodischer Trick. Wirksam wird sie nur in der praktischen Anwendung. Der Lehrer kann nur ein Angebot machen, einen Raum zur Verfügung stellen, in dem Initiative erwünscht, ernsthaft experimentiert, aufmerksam zugehört wird. Er fungiert als sensibler Seismograph für das Unterrichtsgeschehen und die darin schwingenden seelischen Resonanzen. Dieses Milieu eröffnet dem Kind Entwicklungsräume und die Chance, zu sich selbst zu erwachen. Mit diesem Erwachen sind erste moralische Neigungen verbunden, denn das Kind findet Anknüpfungspunkte an die Impulse seiner Inkarnation, die zu verwirklichen es sich in seinem Leben vorgenommen hat. Das drückt sich in seinen Begabungen und »Behinderungen« aus. Daraus ergeben sich konkrete Entwicklungsaufgaben, die nicht von außen an das Kind herangetragen, sondern mit dem (unbewussten) Entwicklungswillen des Kindes verbunden sind. Dieser innere Zusammenhang trägt eine moralische Komponente bereits in sich. Wer diese verborgene Schicht des Kindes erreicht, kann Promotor seiner moralischen Erziehung sein. Als Verbündeter des Kindes predigt er nicht Moralgebote, sondern arbeitet mit dem Entwicklungswillen des Kindes an dessen Vervollkommnung.

Nachahmung ist kein Automatismus

In der Antike hoffte man noch, dass gute Vorbilder den Menschen auf den rechten Weg bringen. Das lateinische Wort »mores« (Sitten und Gebräuche), aus dem das deutsche Lehnwort »Moral« sich gebildet hat, zeugt von diesem Tatbestand.

Heute gilt das nicht einmal mehr für das Nachahmungs­alter des kleinen Kindes. Jeder Erzieher macht die Erfahrung, dass Kinder sich häufig genug gerade nicht an dem Vorbild orientieren, das ihnen gutmeinende Pädagogen vorführen, sondern mit unbeirrbarer Hartnäckigkeit dem »schlechten« Beispiel zustreben. Steiner macht auf die Ursache dieses Verhaltens in einem Vortrag, den er am 17. April 1923 in Dornach hielt, aufmerksam: »Das Auftreten bei dem einen Kinde mit der Ferse, bei dem anderen Kinde mit den Zehenspitzen, auch das rührt von der Nachahmung von Vater oder Mutter oder sonst jemand her. Und entscheidend für diese Wahl, möchte man sagen, des Kindes, ob es sich mehr nach dem Vater oder mehr nach der Mutter richtet, ist die – wenn ich es so ausdrücken darf – zwischen den Zeilen des Lebens auftretende Zuneigung zu dem betreffenden Wesen, welches das Kind nachahmt.«

Nachahmung ist also kein bloßer Automatismus. Vielmehr spielt die Zuneigung des Kindes zu einem bestimmten Vorbild eine entscheidende Rolle. Das Kind bestimmt selbst, wen und was es nachahmen will. Mag diese Entscheidung auch unbewusst oder vorbewusst getroffen werden, ist sie doch wirksam und weist auf die Ich-Instanz moralischer Erziehung hin, die bereits in frühester Kindheit zu berücksichtigen ist. »Gute« Vorbilder garantieren keine »guten« Menschen. Überall ist die Freiheit des anderen Menschen zu sehen und zu achten. Moral kann heute nur noch in einem Raum der Freiheit gedeihen.

Der Humus moralischer Entwicklung

Um einen solchen Raum zu schaffen, braucht es Ein­fühlungsvermögen, Phantasie, Unerschütterlichkeit und Humor. Der Erzieher muss sich liebenswert machen – nicht anbiedern. Anders wird er nie Zugang zu jenem Geburtsort freier Moral erhalten, von dem alles abhängt. Wie jede Erziehung beginnt moralische Erziehung also mit Selbsterziehung. Aber wer sich selbst nicht kennt, kann sich auch nicht selbst erziehen. Es sind unbequeme Voraussetzungen, die den indirekten Weg zu einer moralischen Erziehung in der Gegenwart bestimmen. Vermutlich deshalb lauteten Steiners erste an die Waldorflehrerkandidaten von 1919 gerichteten Worte: »Wir kommen mit unserer Aufgabe nur zurecht, wenn wir sie nicht bloß betrachten als eine intellektuell-gemütliche, sondern als eine im höchsten Sinne moralisch-geistige.«

Moralische Erziehung heute spielt sich zwischen autonomen Menschen unterschiedlicher Generationszugehörigkeit ab. Wo sich kindliche Zuneigung und pädagogische Intuition begegnen, entsteht der Humus moralischer Entwicklung, der Wertvorstellungen und Sittlichkeit selbstbestimmt hervorbringt.

Solche Begegnungen sind vielseitig. Sie regen das Kind an, ohne von ihm Besitz zu ergreifen. Sie lassen den Lehrer mit seinen Möglichkeiten und Grenzen und das Kind mit seinen Möglichkeiten und Grenzen interagieren. Dadurch wird jede Lehrer-Kind-Beziehung einzigartig, bescheiden und großartig zugleich. Denn die persönliche Begrenztheit gilt für beide Seiten, und gerade das Bestreben, aus der konkreten Beschränkung ein höchstes Erreichbares zu machen, lässt das moralische Biotop entstehen.

Es ist deutlich, dass solche Erziehung die engen Grenzen intellektueller Wissensvermittlung und gesellschaftlicher Instruktion übersteigt. Sie erfordert mehr als normierte Handlungsanweisungen oder ein kanonisiertes Methodenrepertoire. Erziehung wird dabei zum schöpferischen Prozess, eher zu einem Gebiet der Kunst als zu einem Studiengebiet der Wissenschaft. Kunst ist das Gebiet pädagogischer Praxis, Wissenschaft das der Reflexion.

Aus diesem Grund nannte Steiner die Waldorfpädagogik »Erziehungskunst«, die Dimension der moralischen Erziehung wohl im Auge habend. Denn Kunst ist die schöpferische Kraft des Ich in der Wirklichkeit, Moral ihre freieste Ausdrucksform.

Zum Autor: Hartwig Schiller, ehemaliger Klassenlehrer an der Rudolf Steiner-Schule in Hamburg-Wandsbek, dann Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart, ehemaliges Vorstandsmitglied des Bundes der Freien Waldorfschulen, seit 2007 Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland.

Literatur:

Rudolf Steiner: Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte, 1887–1901, Aufsatz: Freiheit und Gesellschaft (1898), GA 31,

Dornach 1989; Ders.: Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkt geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis, Dornach 1989;

Ders.: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, Vortrag vom 21. August 1919, Dornach 1992