Moral, wo bist Du? Die Tugend der Jugend

Valentin Hacken

»Wahrscheinlich habe ich schon Tugenden, aber das würde ich so nie über mich sagen, ich denke auch nicht über jemand anderen.« Marten zieht die Beine hoch, er sitzt auf dem Bett und schaut nachdenklich. Es gibt Aufträge, die einem als jungem Autor unmittelbar den Schweiß auf die Stirn treiben, sofort und direkt gehört in diese Kategorie jede Frage, die mit »Was denkt die Jugend über …« beginnt. Keine Ahnung, ehrlich.

Ich bin nur zufällig auch zwanzig Jahre alt. Und so suche ich die anderen, die auch zur Jugend gehören, schreibe SMS und Mails, setze mich ans Telefon, frage bei Facebook und abends zwischen ein paar Bier auf dem Balkon »Was fällt Euch zu Tugend und Moral ein«?

Wer diese Frage stellt, kommt an einem Monument der Statistik nicht vorbei, der Shell Jugendstudie. Die letzte, aus dem Jahr 2010, transformiert die Gruppe der 12 bis 25 Jahre alten Deutschen in Balkendiagramme und seitenweise Zahlen, etwa folgende: Der Aussage »Es muss für alle Menschen gültige moralische Maßstäbe geben, sonst kann unsere Gesellschaft nicht funktionieren«, stimmen 82 % zu, »Fleißig und ehrgeizig sein« bewerten 78 % (hier 13 bis 30 Jahre) als wichtig, doch vor allem anderen rangieren die »guten Freunde«, die 97 % als wichtig angeben, gefolgt von einem »Partner dem man vertrauen kann« und einem »guten Familienleben«.

Aber was bedeutet das real? Gute Freunde und Familienmenschen in moralphilosophischen Diskursen? Den Abstand zwischen Beobachtung und Objekt, Gemessenem und Gegenstand kann auch »DIE ZEIT« mit ihrer Rezension »Was die Jugend denkt, wünscht, fürchtet – hier steht es«, nicht überbrücken. In diese Lücke springen immer wieder aufs neue Publizisten und Wissenschaftler, meist bringen sie einen neuen Generationenbegriff mit, quasi als Gastgeschenk für die, auf welche dann wahlweise eingeschlagen wird, oder die überraschenderweise als doch nicht so verkommen, aber vielleicht ein bisschen angepasst bezeichnet werden, als hätten alle heute im gesellschaftlichen Diskurs prominent Angekommenen eben noch die Revolte durch die Straßen getrieben. Dabei eint der sehnliche Wunsch, prophezeien zu können, in der Verlängerung der aktuellen Erkenntnisse in eine berechenbare Zukunft, was aus diesen jungen Menschen mal wird, ob sie die Welt der Alten in sichere Hände übernehmen können: Die Renten zahlen und Europa bewahren.

Tugend? – einfach und schwierig

Marten sind einzelne Tugenden wie Pünktlichkeit und Verlässlichkeit durchaus wichtig, auch wenn er sie nicht so nennen mag und das Wort ihm fern ist, aus einer Zeit, in der man noch Mittelhochdeutsch sprach oder zumindest sehr viel Uniform trug. Auch Lea schreibt mir nur zurück »schwierig«. Einzig Lennart kann dem Wort etwas Ritter­liches abgewinnen, den Faustschlag gegen den, der seine Freundin anmacht.

Wo die einzelnen Tugenden aus pragmatischen Gründen hilfreich sind – Pünktlichkeit für Gruppenarbeiten, Sparsamkeit mit der gemeinsamen WG-Kasse –, werden sie als singuläre Eigenschaften geschätzt, eine Zusammenschau unter einem mit besonderer Wertschätzung belegten Begriff findet nicht statt. »Ein Typ, auf den man sich verlassen kann«, also jemand der für die Erwartungen des sozialen Umfelds berechenbar ist, wird gerne gesehen. Strahlende Ritter, alte Preußen und Priester im Laiengewand sind weniger gesucht, auch wenn jemand, »der straight seine Überzeugungen lebt«, durchaus Respekt findet.

Anerkennung anderer Lebensstile und Toleranz höre ich immer wieder als wichtige Eigenschaften, aber weder moralisch begründet, noch als Tugend bezeichnet. Das ist einfach wichtig, Punkt. Die Beispiele bewegen sich meist im Bereich Freundschaft und Familie, da steht ohne langes Nachdenken intuitiv fest, was richtig ist und was falsch – »das spürt man einfach, ob das fair war«, sagt Marcel. Fair, also gerecht, ist hier die meistgebrauchte Vokabel. Die Frage nach Moral beantworten mir die meisten mit einer Überlegung zur Gerechtigkeit – meist der Zumessung von Gütern, Aufmerksamkeit und Empathie oder der Einhaltung von Versprechen, Absprachen, mit Beziehungen einhergehenden Verpflichtungen –, wobei jeder Fall einzeln abgewogen wird. Die Möglichkeit, intuitiv zu entscheiden, ist relativ; sie hängt von der Beziehung zu den jeweils Handelnden und Betroffenen ab. Je ferner diese einem persönlich

stehen, genauer gesagt, je abstrakter der Zusammenhang ist – denn auch die Opfer afrikanischer Warlords können einem plötzlich sehr nahe sein, wie die Kony 2012 Kampagne zeigt – desto mehr muss überlegt werden, ändert sich die Sprache zunehmend von »gut« versus »schlecht« zu »sinnvoll« versus »unsinnig«.

Sehen im Kontext

»Das ist ungeheuer schwierig zu sagen, was Moral für mich ist, das müsste ja ein System sein, aber dazu muss man viel mehr Überblick haben«, höre ich oft. Aus den persönlich klar feststehenden Überzeugungen lassen sich Antworten für komplizierte Fragen oft nur mit Mühe ableiten.

Offenbar ist die Frage nach Moral in der Praxis vor allem eine Frage danach, ob einzelne Geschehnisse in Kontexten gesehen werden können. Die Schlagzeile bei Spiegel Online, die 140-Zeichen-Nachricht bei Twitter helfen hier nicht mehr weiter. Die kurzatmige Sprache vieler Medien und die technokratischen Elaborate der Experten sind ungeeignet, ein moralisches System zu begründen.

Anderes zählt: Am Ende vieler Gespräche stehen Verweise auf Romane, Schriftsteller, Musiker – Menschen, die mit viel Zeit einen differenzierten Blick auf die Welt richten. Es gibt ein großes, unter dem Alltag aus Schule, Studium oder Ausbildung liegendes Bedürfnis nach deren Sprache, die empathisch für ihre Gegenstände und doch frei von fertigen Urteilsschablonen und intendiertem Nicht-Sprechen aus taktischen Gründen einem Rohstoff zur denkerischen Vertiefung gibt und zur Suche nach eigenen Überzeugungen und Formulierungen für sie anregt. Dass diese dann auch in Handlungen münden, von der einfachen Stofftasche zum Einkauf bis zum politischen Netzwerk versteht sich von selbst.  Ja, »diese«, meine Jugend hat ganz offensichtlich Werte, bieder anmutend im privaten Bereich, pragmatisch im weiteren Umfeld, neugierig die großen moralischen Zusammenhänge suchend, für die ein neues System gesucht wird.

Zum Autor:

Valentin Hacken, Jahrgang 1991, studiert an der Universität Freiburg Philosophie und Neue Deutsche Literatur und ist Geschäftsführer der WaldorfSV – Bundesschülerrat.