Moralische Phantasie macht frei

Michael Ritter

Kontext und Konvention entscheiden

Etymologisch gehen die Begriffe Sitte und Moral auf das Brauchtum und auf den zur Gewohnheit gewordenen Willen zurück, sein Leben auf angemessene Art und Weise zu gestalten. Moralbegriffe stehen in einem Kontext, in dem sie angewandt werden. Dieser Kontext wechselt je nach Interessenlage und Zeitalter. Die Inhalte der Moralbegriffe können auf verschiedene Art und Weise interpretiert und ausgelegt werden. Zum Beispiel das Töten: Im allgemeinen sozialen Kontext gilt das Töten als moralisch verwerflich, darin sind sich alle einig. Werden Menschen jedoch getötet, weil das Gesetz es so will, um einer goldenen Zukunft willen oder weil Gott es gebietet, dann lässt dieses Moralgesetz viele Ausnahmen zu. Moral oder Sittengesetze scheinen in Stein gemeißelt, aber das sind sie nicht. Denn ob und wie sie angewendet werden, ist immer Ansichtssache und situationsabhängig.

Wer also sollte verbindlich festlegen, ab wann und unter welchen Umständen ein Verhalten als moralisch angesehen werden kann? Sicher ist, dass sich die jeweils herrschende Gruppe als ethisch-moralische Instanz versteht und über ein ausgeklügeltes System von Belohnung und Bestrafung, sicherlich nicht ganz uneigennützig, das Volk in Tugend und Moral unterrichtet. So kann ein gesellschaftlich toleriertes, oft aber unreflektiert übernommenes Verhalten, zumindest unter normalen Belastungen, nach außen hin aufrecht erhalten werden. Kann aber eine äußere Instanz vorschreiben, wie man sich (vielleicht auch nur im Inneren) selbst behandeln soll? Ist eine, wie auch immer geartete Unterdrückung der eigenen Persönlichkeit moralisch, nur weil ich nach außen ein Ausbund an Tugendhaftigkeit bin? Ganz zu schweigen von dem seltsamen Zwitterwesen der Doppelmoral, das dem ethisch korrekten Verhalten etwas überaus Subjektives verleiht. Zu erinnern sei hier daran, dass in einigen U.S.-Bundesstaaten bestimmte Sexualpraktiken per Gesetz verboten sind, aber in eben jenen Staaten der Bedarf an pornografischem Material besonders hoch ist.

Es muss also nach den eigentlichen Antrieben, moralisch oder unmoralisch zu handeln, gefragt werden.

Freie und unfreie Geister

Rudolf Steiner unterscheidet diesbezüglich Menschen mit einem freien Geist und Menschen mit einem unfreien Geist. Er betont, dass nur sittlich produktiv sein kann, wer die moralische Phantasie als Quelle seines Handelns und zur Durchsetzung seiner Ideen gebraucht. Im Gegensatz dazu steht der unfreie Menschen, der eine Vorstellung von Moral durch Vorbilder, Gesetze und Beschlüsse zur Selbstregulierung benötigt. Nietzsche bezeichnet den freien Menschen als ein autonomes, souveränes und übersittliches Individuum, als Herrn des freien Willens; dabei schlössen sich Autonom- und Sittlich-Sein gegenseitig aus.

Mit Phantasie meint Steiner nicht das Trugbild einer Sache, sondern er spielt damit auf die ursprüngliche Bedeutung des Verbs phantázesthain (griech.) – sichtbar werden, erscheinen – an. Der moralische Handlungsantrieb darf demnach ganz phantastisch im Inneren eines jeden Menschen entstehen, denn »die ethische Norm kann zunächst nicht wie ein Naturgesetz erkannt, sondern sie muss geschaffen werden« (Steiner). Hier geht es um einen Schöpfungsvorgang der Moral, um eine innere Genese, einen immer wieder neuen Ethikentwurf. Aber wie? Dazu Steiner: »In dem Wollen verwirklicht sich eine ideelle Intuition.« Spürt man dem Wort Intuition nach, dann trifft man auf Folgendes: unmittelbares Erfassen von Lösungen, inneres Anschauen und Einswerden sowie die restlose Durchdringung eines Sachverhaltes.

Auch C.G. Jung beschreibt das Intuieren neben dem Fühlen, Denken und Wollen als vierte seelische Grundfunktion – eine Fähigkeit, den eigenen Lebensweg zu gestalten.

Bernhard Lievegoed schreibt in seinem Buch »Lebenskrisen – Lebenschancen«, was eine bewusst gestaltete innere Biographie ausmacht: Sie erweitert eine bloß zeitlich bedingte Veränderung hin zu einer tatsächlichen Entwicklung. Das heißt: Der Mensch wird nicht bloß älter, er entwickelt sich. Dazu aber sollte das fühlende Seelenleben zur Inspiration, das denkende Seelenleben zur Imagination sowie das wollende Seelenleben zur Intuition hinaufwachsen. Intuition ist demnach eine höhere und erweiterte Form des eigenen Willens und, nach Steiner, notwendig, die eigene Moral auf seinem Lebensweg zu finden.

Nur wer der eigenen Moral folgt, kann sich verwirklichen

Der intuitiv erschaffene Moralbegriff kann als Bezugsrahmen für die eigene Selbstverwirklichung gesehen werden, ja der Wille zur Selbstentfaltung ist der eigentlich moralische Handlungsantrieb. Somit wäre die Voraussetzung geschaffen, dass tugendhafte Handlungen einer inneren Wahrheit entspringen und nicht einer wechselhaften äußeren Doktrin folgen müssen. Denn, dazu Rudolf Steiner weiter: »Wer etwas anderes tut, als er will, der muss zu diesem anderen durch Motive getrieben werden, die nicht in ihm liegen. Ein solcher handelt unfrei.«

Woher kommt die Intuitionskraft und wer oder was ist ihr Urheber? Diese Frage kann rational nicht befriedigend beantwortet werden. Möglicherweise hilft ein poetischer Seitenblick, denn sicher kann man »immer größere Tiefen im Menschenwesen entdecken, wobei sich immer deutlicher die Unergründlichkeit seiner Natur nach ihrer göttlichen Seite hin offenbart« (Christian Morgenstern).

Angesichts der persönlichen und gesellschaftlichen Konflikte wird es darum gehen, die intuitive Kraft, die uns zu einer unmittelbaren Anschauung führt, zu kultivieren, damit wir nicht nur auf Probleme reagieren, sondern aus einem kreativen Bewusstsein schöpfen.