Schule braucht Sport

Ludwig Digomann

Die Nachteile körperlicher Passivität haben schon die Schulverantwortlichen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Preußen erkannt und das »Turnen« als obligatorisch in den Fächerkanon aufgenommen. Ziele und Inhalte dieses Fachs änderten sich jedoch im Lauf der Zeit grundlegend. So förderten in der wilhelminischen Ära die Drill- und Ordnungsübungen der Turnpädagogen den Gehorsam und die Disziplin der Untertanen. Gegen Ende dieser Ära mit preußisch-militärischem Einschlag versuchte man die Verbindung von Sport und militärischer Jugenderziehung zu intensivieren und den Schulsport zu einer Wehrertüchtigung zu verändern – was die deutsche Niederlage im ersten Weltkrieg aber nicht verhinderte. Kurze Zeit später sollten die Turnübungen den gesunden und kräftigen deutschen Krieger formen und die Einschränkungen durch den Versailler Friedensvertrag elegant umgehen. Die »Leibesübung« sollte »die deutsche Rasse unüberwindbar« machen, wie es bei der Gründungsversammlung des »Deutschen Reichsausschusses« für Leibesübungen 1917 formuliert wurde.

In den 1960er Jahren wurde der Leistungssport das Maß aller Dinge: »höher, weiter, schneller« und »je früher, desto besser«. Das galt auch für den Schulsport. Erfreulicherweise stellte sich die Erkenntnis ein, dass die Entwicklungsgesetze des jungen Menschen dabei nicht übersehen werden dürfen. Die sportlichen Übungen und Bewegungsabläufe sollten auch auf die Gesundheit, das Miteinander, die Bewegungsfreude und auf die Willensschulung des Schülers abzielen. Mit dem Argument der Gesunderhaltung der Jugend wurde 1956 eine tägliche Sportstunde als Fernziel für allgemeinbildende Schulen nach einer Tagung des Deutschen Sportbundes mit den Kultusministern formuliert. Diese grobe geschichtliche Skizze zeigt, dass der Schulsport für die vielfältigsten Ziele vereinnahmt werden kann, die diametral entgegengesetzt sein können wie »Wehrertüchtigung« und »Völkerverbindung«, Förderung der Gesundheit und Förderung von Spitzenleistungen.

Der Sportunterricht an Waldorfschulen

Schon die erste Waldorfschule, die 1919 in Stuttgart gegründet wurde, verstand den Schulsport nicht als Kompensation für den Wegfall der allgemeinen Wehrpflicht, wie es das Kriegsministerium der Weimarer Republik tat. Die Waldorfschule wollte einer einseitigen intellektuellen Entwicklung entgegenwirken. Geist, Seele und Leib sollten harmonisch ausgebildet werden. Der Schulsport galt damit als ein Bestandteil der ganzheitlichen Erziehung, der bis heute einen unverzichtbaren Beitrag für die körperliche, geistige und emotionale Entwicklung der Schüler leisten soll. Sie sollen im Schulsport Bewegungs-, Körper-, Raum- und Erfolgserlebnisse sammeln, die über die Schulzeit hinaus Interesse an Bewegung, Spiel und Sport wecken und Neigungen und Begabungen fördern. Diese Zielsetzung trägt der wachsenden Bewegungsarmut Rechnung.

Aspekte wie Anstrengungsbereitschaft, Selbstvertrauen, Selbstdisziplin und soziales Handeln gegenüber Partnern und Mitschülern werden durch das regelmäßige Sporttreiben positiv beeinflusst. Dabei fördert der Sportunterricht Fähigkeiten, die nicht nur im Sportunterricht, aber durch diesen besonders intensiv gefördert werden können. So ist Kommunikationsfähigkeit für Mannschaftssportarten unerlässlich, genauso wie die Teamfähigkeit und die Frustrationstoleranz, wenn man nicht gewinnt. Das Selbstwertgefühl wird gestärkt, wenn sich nach langem Üben der sichtbare Erfolg einstellt, zum Beispiel beim Turnen oder Schwimmen. Ganz ähnlich werden die Ziele des Schulsports auch in den neuesten Bildungsplänen für Gymnasien in Baden-Württemberg formuliert. Und doch gibt es Unterschiede.

Sport ist nicht gleich Waldorfsport

Neben vielen äußerlichen Unterscheidungsmerkmalen gibt es ein entscheidendes Inneres, nämlich die Entwicklung des Kindes! Seine Entwicklungsphasen sind Grundlage und Maßstab für den Schulsport an Waldorfschulen. Der Blick ist weder auf die glitzernde Welt des Spitzensports noch auf die Erfordernisse des Breitensports gerichtet, sondern in erster Linie auf die Entwicklungsschritte des Kindes oder des Jugendlichen.

Die Erst- und Zweitklässler treiben nicht gleich Sport, sondern werden durch spielerisches Tun in die Märchen- und Zauberwelt entführt und in Fang-, Tummel- und Reaktionsspiele eingeführt. Erst in der 3. Klasse beginnt das eigentliche Turnen, wobei der Turnlehrer bestrebt ist, die Schüler in eine Phantasiewelt eintauchen zu lassen, damit sie mit ihrer Lebendigkeit und Freude die Turngeräte kennenlernen und mit Hilfe von Geschicklichkeitsübungen diese bewältigen können.

Vom gemeinschaftlich erlebten Tummeln werden dann die Schüler zu Übungen hingeführt, die immer stärker die aufkeimende Ichbezogenheit aufgreifen und auf Mut, Entschlusskraft und Standfestigkeit hinarbeiten. In der Mittelstufe steht der »Agon«, der Wettstreit, im Mittelpunkt. Dabei ist nicht nur der Wettkampf mit den anderen gemeint, sondern auch der Kampf mit sich, das heißt mit der zunehmenden Schwere und der immer bewusster erlebten Mechanik der Knochen und Sehnen.

Die Aufgabe des Sportlehrers in der Oberstufe besteht darin, immer stärker aus dem Übungsbetrieb herauszutreten, den Schüler immer selbstständiger üben zu lassen und auch die Hilfs- und Sicherheitsstellungen den Schülern zu übergeben. Nebenbei ergibt sich oft die Vorbereitung auf einen erfolgreichen Abiturabschluss im Fach Sport. Ausgesprochen wichtig ist, dass der Sportunterricht mit dem Eurythmieunterricht zusammen als Bewegungsfach in den Fächerkanon eingebunden ist, so dass ein künstlerisches Fach einen Ausgleich zum Sport schafft. Dieser Ausgleich ist für das leibliche und seelische Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen wichtig. Steiner formuliert dies im 13. Vortrag der »Allgemeinen Menschenkunde« folgendermaßen: »[…] je mehr wir abwechseln lassen das Turnen mit der Eurythmie, desto mehr rufen wir Einklang hervor zwischen dem Schlaf- und Wachbedürfnis; desto mehr erhalten wir von der Willensseite her […] das Leben […] des Kindes.«

Überraschend für Außenstehende ist die Tatsache, dass die Schüler durchgängig koedukativ unterrichtet werden: Sie bleiben im Sportunterricht von der ersten Klasse bis zum Sportabschluss in ihrem Klassenverband. Sie sind also gerade auch in der Zeit zusammen, in der die Jungen überschießenden Tatendrang und die Mädchen eine Tendenz zu einer gewissen Bewegungslethargie entwickeln. Dadurch können sie sich wohltuend beeinflussen. Ein auffälliger Unterschied zum Sportunterricht an Regelschulen ist auch die Tatsache, dass die Klassen im Allgemeinen ab der 3. Jahrgangsstufe von einer Sportlehrerin und einem Sportlehrer im »team teaching« unterrichtet werden. So bleiben in der Turnhalle zwar die großen Klassen, aber die Schüler können in Gruppen intensiv unterrichtet werden. Sport in der Waldorfschule soll einen Bogen spannen von Gruppenspielen bis zu einem individualisierten Sportunterricht. Wenn es uns gelingt, in altersgemäßen Schritten den Jugendlichen Freude an der Leistung zu vermitteln, Sicherheit in der Bewegung, Stärke im Willen und Wachheit für ein faires Handeln, haben wir unser Ziel erreicht.