Sich selbst und andere führen. Walzer und Foxtrott als Suchtprävention?

Johannes Labudde

Die klassischen Bewegungsfächer im Lehrplan der Waldorfschule sind bekanntlich Eurythmie und Sport. Der Gesellschaftstanz ist nicht vorgesehen, findet aber in der einen oder anderen Form dennoch vielerorts statt. Klassen gehen entweder geschlossen zu einer örtlichen Tanzschule oder zumindest einige Schüler und Schülerinnen. Meist in der 9. oder 10. Klasse. Manchmal finden die Tanzstunden »vor Ort« in der Schule statt. Wenn die Tanzlehrer in die Schule kommen, gehört das Projekt aus Sicht der Schüler zum normalen Schulalltag, weil es in den gewohnten Räumen stattfindet, ist aber zugleich etwas Besonderes, weil es außerhalb der Schulzeit liegt und sie es dabei nicht mit ihren Lehrern zu tun haben. Auf diese Weise gelingt es in der Regel, alle Schüler eines Jahrgangs in das Projekt einzubeziehen, denn in den meisten Klassen würde sich wohl nicht jeder in eine Tanzschule begeben. Aber in der eigenen Schule? Da denkt sich mancher: »Na ja, da gehe ich mal hin, schau mir das an.« Und siehe da, es macht Spaß.

Was ich bei der Arbeit an Schulen mit Fünfzehn-, Sechzehnjährigen jedoch erlebe, ist, dass es bei den Tanzstunden mit einer ganzen Klasse in erster Linie gar nicht ums Tanzen selbst geht. Dass die Schüler am Ende selbstverständlich alles können, meist sogar sehr gut, und begeistert ihren Walzer, Tango oder Cha-Cha-Cha aufs Parkett bringen – all das ist nur ein Nebeneffekt; wenn auch ein nützlicher, denn schließlich kann jeder einmal in eine Situation kommen, in der er es bedauert, nicht tanzen zu können.

Das soziale Gefüge gerät in Bewegung

Die Standard- und Lateintänze bieten eine großartige Chance, sich einzeln und als Klasse noch einmal neu und ganz anders kennenzulernen. Nicht nur der Leib, sondern auch das soziale Gefüge gerät dabei in Bewegung. Da hat man acht, neun Jahre lang nebeneinander gesessen, war auf Klassenfahrten, hat gemeinsam Theater gespielt – und plötzlich fasst man sich stundenlang an! Berührt sich, kommt sich nahe wie noch nie, muss bereit sein, sich von anderen führen zu lassen oder selbst zu führen! Man merkt: Es knirscht und knackt, denn nicht jeder, der sonst jahrelang nach vorn geprescht ist und das große Wort geschwungen hat, ist unbedingt ein begnadeter Tänzer. Und manch einer, der lange eher im Hintergrund stand, entpuppt sich als Bewegungskünstler, auf den die anderen plötzlich ganz anders zugehen.

Die Aufgabe der Tanzlehrer ist es, diese Prozesse in Gang zu bringen, zu begleiten und immer wieder auf sie zu achten, unter anderem dadurch, dass sie von Anfang Wert auf wechselnde Tanzpartner legen, so dass im Idealfall am Ende einer Tanzstunde jeder einmal mit jedem getanzt hat.

Es gibt da aber noch etwas anderes: die seltenen, kurzen Momente, in denen die Schüler jedes Gehabe, jede Pose hinter sich lassen und vergessen, dass sie eigentlich diese oder jene Rolle in der Klasse spielen müssten. Dann gehen sie mit einer Rücksichtsnahme und Zartheit aufeinander zu, die sich aus dem seelischen Erleben der Freude am Miteinander und an der gemeinsam gestalteten Bewegung speist. Das sind kostbare, berührende, ja auch erschütternde Momente, und wieder ist es die Aufgabe, sie stets aufs Neue zu ermöglichen.

Wenn das gelingt, wird es im besten Fall so sein, wie jüngst bei einer neunten Klasse im süddeutschen Raum, die sich einen sehr problematischen Ruf eingehandelt hatte. Die Musiklehrerin berichtete: »Diese Klasse ist jetzt eine ganz andere als vor der Tanzstunde. Da ist so viel passiert, so viel in Bewegung geraten – und endlich kann ich mit diesen Schülern auch wieder singen!«

Eine andere Klasse hatte sich in einen so verfahrenen sozialen Zustand hinein manövriert, dass beschlossen wurde, die Hilfe einer externen Mediation in Anspruch zu nehmen. Die Tutoren entschieden kurzerhand, stattdessen die Tanzstunden als Sozialprojekt zu nutzen. Das hieß, eine Woche lang täglich stundenlang Tango, Jive und Foxtrott tanzen – mit großem Erfolg. Am Ende waren zwar alle fix und fertig, aber begeistert bei der Sache, die Mediation erübrigte sich, und es gab sogar noch einen rauschenden Ballabend zum Abschluss.

Rauschende Bälle – auch ohne Alkohol

Diese festlichen Bälle gehören wesentlich zu den Tanzstunden dazu. Natürlich ist es ein enormer Aufwand und Kraftakt, wenn ein Termin im strapazierten Veranstaltungskalender der Schule gefunden wurde, das dann auch noch zu organisieren und durchzuführen. Aber es lohnt sich, denn um wie viel schöner ist es, wenn die Schüler ein solches Fest selbst gestalten, geleitet von ihren Interessen, Vorlieben und Wünschen, anstatt ein fertiges Konzept zu buchen. Es gibt viele Veranstaltungen im Lauf eines Schuljahrs, die gemeinsam haben, dass, sobald sich der Vorhang öffnet, die Schulgemeinschaft gebannt hinschaut, lauscht – und schweigt. Bei einem Ball ist das anders. Und was für eine einzelne Klasse gilt, trifft auch für die Schulgemeinschaft als Ganzes zu: Tanzen ist ein Fest der Begegnung, des geräuschvollen Austauschs und Miteinanders. Beim Ball bewegen sich Alt und Jung zusammen. Lehrer, Eltern, Schüler, Ehemalige oder kleine Geschwister begegnen sich zur Musik – ein fröhliches Tohuwabohu. Solche Gelegenheiten sollte man sich nicht entgehen lassen, denn insbesondere die Schüler wird man so nur an diesem Abend erleben, und damit ist nicht nur die festliche, manchmal atemberaubende Kleidung gemeint.

Es ist für einen Schulorganismus ein Unterschied, ob diese Form des Miteinanders und der Geselligkeit gepflegt wird oder nicht – und das ganz ohne Alkohol. Nichts gegen einen guten Tropfen, aber den braucht ein solches Fest nicht, es erhält aus anderen Quellen seinen Schwung. Und es ist ganz wichtig, dass die Schüler auch das erleben, wo doch Alkohol zum Feiern bei Jugendlichen in der Regel dazugehört – von anderen Rauschmitteln ganz zu schweigen.

Der Kommentar eines erschöpften, aber glücklichen Zehntklässlers am Ende eines langen Ballabends lautete: »Ich habe den ganzen Abend getanzt und habe es bis zum Schluss sogar noch mitbekommen!« Deutlicher kann man es nicht ausdrücken: Cha-Cha-Cha und Walzer als Suchtprävention? Warum nicht.

Schulfach Tanzen?

An all dem zeigt sich, dass das Tanzen einen eigenen Platz im Kanon der Bewegungsfächer haben könnte. Steht beim Sport die physische Komponente im Vordergrund und sind es bei der Eurythmie die ätherischen Kräfte, so bietet der Tanz die Möglichkeit, sich im seelischen Erleben und Wahrnehmen zu schulen auf der Basis von realer Begegnung und Bewegung. Das ist in einer Zeit, in der die seelischen Wahrnehmungs- und Erlebniskräfte von Jugendlichen von medialer Seite stark beeinträchtigt werden, eine Herkulesaufgabe, die aber in dieser Form den Vorteil hat, dass sie den meisten auch noch Freude bereitet.

Kontakt: aslabudde@gmx.de

Zum Autor: Johannes Labudde ist Verlagskaufmann und gibt seit mehr als 20 Jahren Tanzunterricht für Jugendliche und Erwachsene an Waldorfschulen, in Jugendzentren und heilpädagogischen Einrichtungen.