Solidarische Landwirtschaft und die Zukunft der Pädagogik

Carlos Lira

Wir sprechen heute von verschiedenen Arten der Intelligenz. Es gibt eine kognitive Intelligenz, aber es gibt auch eine musikalische, eine künstlerische, eine emotionale und eine soziale Intelligenz. Die traditionelle Institution »Schule« kultiviert vornehmlich die kognitive Intelligenz. Alle anderen Intelligenzen werden stiefmütterlich behandelt und die Schule als Umgebung bietet wenig Möglichkeiten, sie zu entwickeln. Die kognitiven »Leistungen« stehen im Vordergrund, irgendwann kommen die Noten dazu und der Vergleich, besser oder schlechter als andere zu sein. Damit tragen wir nicht zur Entwicklung der sozialen, sondern zu der antisozialen Intelligenz des Kindes bei.

Dass wir in einem Raum 30 Kinder der gleichen Altersgruppe unterrichten, schafft eine künstliche Situation. Wo sonst im Leben finden wir eine Situation wie diese? Warum arbeiten die jüngeren Kinder nicht mit den älteren zusammen? In der Landwirtschaft zum Beispiel ergeben sich viele Gelegenheiten zu gemeinsamem Tun. Allerdings müssen die Arbeitsgänge auf dem Hof nicht nur unter praktischen und ökonomischen, sondern auch unter erzieherischen Gesichtspunkten von den Erwachsenen vorbereitet sein. Die Jüngeren würden von den Älteren lernen, aber auch die Älteren könnten sowohl den Jüngeren etwas zeigen als auch zugleich durch sie lernen, nämlich Rücksicht, Vorsicht, Geduld und andere allgemein menschliche Tugenden. In einer solchen Aktivität wären der Lehrer und der Bauer die Mitarbeiter der Schüler. Sie könnten nicht mehr einfach ansagen, was zu tun ist, sie müssten ihre Arbeit gemeinsam mit den Kindern tun. Und sie hätten den Hof so einzurichten und den Tag so zu gliedern, dass auch musiziert und getanzt werden kann, Formenzeichnen, Schreiben, Lesen und Rechnen geübt werden und allerlei Künste betrieben werden können. Dazu bedürfte es auch einiger schöner Räume, in denen Kinder sich beheimatet fühlen. Zur Erziehungskunst gehört der rhythmisch gestaltete Wechsel zwischen der »Expansion« in der äußeren Welt der Sinneseindrücke und des körperlichen Tätigseins sowie der »Konzentration« auf das, was im Inneren sich zu Bildern gestalten, zu Vorstellungen verdichten will und so die Kräfte des Gemüts heranbildet.

Den Fragen, die eine solche Umgestaltung des traditionellen Schulgeschehens hervorruft, war eine Tagung gewidmet, die in diesem Frühjahr auf der Demetria in Botucatú (Brasilien) stattfand.*

Zu Beginn der Tagung gingen alle 400 Schüler mit ihren Eltern und Lehrern auf die anliegenden Höfe, Bäckereien und Käsereien. Sie ernteten Karotten und Rüben, backten Brot und pflanzten Salat.

Und was haben wir Lehrer durch eine solche Aktivität erfahren? Wir haben nicht mehr gelehrt zu berechnen, wir haben mit den Schülern gemeinsam berechnet: Wie viele Samen müssen gepflanzt werden, um einen bestimmten Bereich abzudecken, bedenkend, dass ein bestimmter Prozentsatz nicht keimen wird? Wir haben gepflanzt und aufgeschrieben und werden später bei der Ernte sehen, ob unsere Berechnungen stimmen.

Auch die Natur ist Teil des Sozialen

Wir haben auch einen Anfang damit gemacht, einen neuen Blick auf den Begriff des Sozialen zu werfen und ihn bis zu den Reichen der Natur auszudehnen. Denn es ist die jahrhundertelange Vernachlässigung der Erde und der Natur, die zu den heutigen ökologischen und sozialen Problemen geführt hat – zu unseren Konflikten um arm und reich, besitzend und besitzlos, gebildet und ungebildet oder frei und unfrei. Wir haben die alten Weisheiten vergessen, die zu uns durch die Erde sprechen. Wir hören sie nicht mehr. Seit 60 Jahren aber beginnen wir sie wieder zu hören, die Not der Naturreiche spricht eine immer deutlichere Sprache zu uns. So begreifen wir langsam, dass unsere Entwicklung als Menschen auf der Erde sich nicht unabhängig von der Entwicklung aller anderen Wesen auf der Erde vollziehen kann, dass die Zeit gekommen ist, unsere Hand auszustrecken und die anderen mitzunehmen: die anderen Menschen, die Tiere, die Pflanzen, ja die ganze Natur auf ihrem Weg zur Vermenschlichung. Der erweiterte Begriff des Sozialen wird sich also nicht nur auf das Verhältnis zwischen Menschen beziehen, sondern alle Reiche der Erde umfassen – so wie Karl König es in seinem wunderbaren Buch »Bruder Tier« ausgeführt hat. Dann dürfen wir von einer echten Bildung und Entwicklung sprechen. Wir wollen lernen, eine Pädagogik zu entwickeln, die das Kind nicht der vollen Wirklichkeit der Erde entrückt. Wir werden uns bewusst, dass unsere Umwelt, unsere Umgebung, die ganze Welt ist!

Übersetzung: Hermann Pohlmann

Zu den Autoren: Carlos Lira ist Kunsthandwerker, Sozialtherapeut und Kunstlehrer (www.trabambu.com) und Mitgründer von verschiedenen Sozialprojekten auf der Demétria-Botucatu sowie von CSA-Demétria.

Hermann Pohlmann ist Gründer mehrerer CSA-Projekte und des Netzwerkes www.csaBrasil.org, Projektleiter makeCSA an der FH Münster und gibt Seminare und Lehraufträge zur Sozialen Skulptur und Kunst in Deutschland und Brasilien.

* Die Tagung fand vom 27. Februar bis zum 1. März 2015 statt und wurde wurde in Zusammenarbeit von Community Supported Agriculture Brasil (CSA) und der Waldorfschule Aitiara durchgeführt. Dem amerikanischen Begriff der Community Supported Agriculture entspricht im deutschen Sprachraum die Solidarische Landwirtschaft.