Wenn Caspar wirklich Lina ist

Sven Saar

Als Caspar drei Jahre alt ist, fragt er: »Mama, wann werde ich ein Mädchen?« Die Mutter schmunzelt: »Mal sehen, Caspar« und erzählt ihrem Mann nachmittags davon. Der Ausspruch wird in ein kleines Heft geschrieben, das sie für alle Kinder angelegt haben – Sachen, die man nicht vergessen möchte. In diesem Heft wird auch über das Wochenende berichtet, als Caspar darauf besteht, von allen nur noch Lina genannt zu werden. Zwei Tage lang spielen alle das Spiel mit, nicht zuletzt, weil es dem kleinen Bruder wirklich ernst damit zu sein scheint. Als die Mama am Montagmorgen sagt: »So, jetzt bist du wieder Caspar!«, gibt es Tränen. Caspar trommelt vor Wut mit den Fäusten auf den Boden und ist gar nicht zu trösten – er will unbedingt auch im Kindergarten Lina sein. Aber die Mutter bleibt bei ihrer Entscheidung: Das war ein lustiges Spiel, aber jetzt ist es vorbei.

Das blaue Kleid

Eine Zeit lang hört man nichts mehr von Lina. Dann räumen Freunde ihren Speicher aus, und Caspar bekommt eine Riesenkiste Verkleidungsmaterial: Stiefel, Anzüge, Zylinderhut, Federboa, und auch ein paar schöne Mädchenkleider. Ein blaues, glänzendes Seidenkleid gefällt Caspar besonders. Da gerade Osterferien sind, trägt er das Kleid jeden Tag. Caspar ist ein glückliches Kind. Caspar hat verständnisvolle, moderne Eltern, die seine Fantasie-Eskapaden unterstützen und tolerieren.

Die Ferien sind vorbei, Caspar ist gerade vier geworden. Am ersten Morgen kommt er in dem blauen Kleid die Treppe herunter. »Willst du so in den Kindergarten gehen?«, fragt die Mutter.

»Das ist mein schönstes Kleid«, sagt Caspar.

»Aber du musst doch deine eigenen Kleider tragen. Das da ist nur zum Verkleiden. Im Kindergarten kannst du kein Mädchen sein.«

»Warum nicht?«

»Weil du ein Junge bist. Du hast einen Jungennamen und Jungenklamotten und einen Penis.«

»Und wenn ich einen Mädchennamen habe und Mädchenkleider, bin ich dann ein bisschen ein Mädchen?«

»Nein, dann bist du immer noch ein Junge – nur eben ein verkleideter.«

Caspar schreit plötzlich los: »Ich bin aber kein Junge! Ich geh nicht in den blöden Kindergarten! Blöde Mama!«, stürmt die Treppe hoch und knallt die Tür zu.

An diesem Morgen gelingt es weder Mutter noch Vater, ihren Sohn aus dem Haus zu bringen. Er krallt sich an den Möbeln fest, kratzt, beißt und kreischt, und sie wissen weder, wo das herkommt, noch was sie jetzt tun sollen.

»Ich darf ein Mädchen sein«

Am Nachmittag ruft der Vater die Kindergärtnerin an. Die sagt: »Ich habe nichts dagegen, wenn Caspar gerne Mädchenkleider anziehen möchte. Schließlich ist er noch klein. Solche Launen kann man ruhig aushalten.« Also ist am Dienstag alles erstmal wieder gut. Caspar geht stolz mit Kleidchen und Gummistiefeln in den Kindergarten und verkündet seinen Freunden: »Ihr müsst mich Lina nennen. Ich darf jetzt ein Mädchen sein!« Auch die Erzieherinnen verbessert er jedes Mal, wenn sie ihn bei seinem »alten« Namen nennen.

Es vergehen Wochen. Die Erwachsenen warten vergeblich darauf, dass das Kind seine anscheinend verlorene Identität wieder annimmt. Er mag nicht zum Friseur gehen, steckt sich die länger werdenden Haare mit Clips zurecht und möchte schöne Glitzerschuhe haben. Allmählich beginnen die Eltern zu verstehen, dass das kein Spiel mehr ist. Sie sehen ihr Kind mit neuen Augen und entdecken vieles an ihm, was ihnen bisher entgangen war. Haben sie seit vier Jahren eine Tochter, ohne es zu merken? Auch wenn die Großeltern zu Besuch kommen, sitzt da Lina am Tisch.

Lieben – ohne Wenn und Aber

Die Eltern werden zunehmend in neugierige Gespräche verwickelt: »Wie lange wollt ihr euch das denn noch anschauen? Da muss man doch irgendwann eingreifen!«

»Wie funktioniert das denn, wenn er aufs Klo muss?«

Tja, die leidige Toilettenfrage. Das ist anfangs nicht leicht. Lina will nicht mehr auf die Jungentoilette gehen – aber darf man sie zu den Mädchen lassen? In der Kindergartenkonferenz sorgt diese Frage über Wochen für Diskussionen, bis man sich schließlich darauf einigt, dass das Kind erstmal das Erwachsenenklo benutzen darf.

Schließlich fasst sich eine Erzieherin ein Herz und bittet die Eltern zum Gespräch: »Haben Sie mal in Erwägung gezogen, dass Caspar an Genderdysphorie leiden könnte?« Natürlich haben sich die Eltern das überlegt und entsprechend recherchiert. Ihre Antwort haben sie längst parat: »Zunächst einmal kann man da nicht von Leiden sprechen, denn es geht unserem Kind ausgesprochen gut. Zweitens bezeichnet der Ausdruck ›Dysphorie‹ eine psychische Störung, und das ist auch in Fachkreisen sehr umstritten. Früher hat man auch gedacht, Homosexualität sei eine Störung.« – »Aber wie wollen Sie denn mit der Situation umgehen?«

»Genauso wie jetzt. Wir lieben unser Kind und versuchen, dafür zu sorgen, dass es das hat, was es braucht. Wenn es glücklicher ist, weil es als Mädchen leben darf, dann soll uns das recht sein. Wir hoffen, der Kindergarten und später die Schule werden uns dabei unterstützen.«

»Das kann ich Ihnen nicht zusagen. Ihr Kind ist nun mal als Junge auf die Welt gekommen. Tragen Sie nicht zu einer potenziell schädlichen Verwirrung bei, wenn Sie diese Fantasien gutheißen? Für das Eine oder Andere müssen Sie sich doch entscheiden!«

»Warum?«

»Was meinen Sie, warum?«

»Warum müssen wir uns entscheiden? Wessen Seelenheil hängt denn davon ab? Stört Lina denn im Kindergarten?«

»Nein, im Gegenteil. Sie … er ist immer hilfreich und benimmt sich ausgezeichnet. Auch bei den anderen Kindern ist sie … ist er sehr beliebt.«

»Sehen Sie, warum gibt es dann überhaupt Handlungsbedarf? Caspar ist jetzt Lina, und solange sie niemanden stört, darf sie Lina bleiben. So sehen wir das jedenfalls als Eltern.«

Das Gespräch endet, die Erzieherin ist nicht so überzeugt. Am nächsten Tag spricht sie Lina direkt an: »Sag mal, Lina, möchtest du denn nie wieder Caspar sein?« – »Nein!«

»Möchtest du denn lieber ein Mädchen sein?«

Lina schaut sie verständnislos an: »Ich BIN ein Mädchen!«

Jetzt endlich hat es die Erzieherin verstanden. Sie spricht mit ihren Kolleginnen und gemeinsam machen sie sich Gedanken, was es praktisch bedeuten würde, das Kind zu unterstützen. Es stellt sich heraus: Das ist gar nicht so schwer. Noch steht in den Schulunterlagen »Caspar«, aber wen interessieren die schon im täglichen Leben? Die Kinder haben anscheinend vergessen, dass Lina früher mal kein Mädchen war. So ist das Leben, wenn man fünf oder sechs ist: Alles verändert sich. Auf einmal hat man weniger Zähne oder kann von einem Tag auf den anderen Fahrrad fahren. Oder eben ein Mädchen werden. Oder ein Junge. Wichtig ist doch nur, dass man gemocht wird.

Lina ist ein glückliches Kind.

Besonderheiten besonders behandeln?

In der ersten Klasse begegnen sich Kinder aus sechs verschiedenen Kindergärten. Wer Lina neu kennenlernt, begegnet ihr als Mädchen. Inzwischen trägt sie die Haare lang und verbringt die meiste Pausenzeit mit den anderen Mädchen. Sie liebt das Seilspringen und lernt, Einrad zu fahren. In der Konferenz diskutieren die Lehrer, ob man Linas Status auf dem Elternabend besprechen sollte. Ihre Eltern würden es vorziehen, das nicht zu tun.

»Und wenn die anderen Kinder sie hänseln? Müssen wir nicht wenigstens den Eltern sagen, dass Lina anders ist?«

»Warum denn? Bestehen wir bei allen Kindern darauf, dass ihre Genitalien von allen diskutiert werden? Warum also bei Lina? Ihre Geschlechtsorgane sind Teil ihrer Privatsphäre, und darauf hat sie ein Recht. Ihre Besonderheit geht niemanden etwas an.«

Das stimmt: Lina ist ein Mädchen mit einem Penis. Wird sie sich eines Tages umentscheiden und wieder Caspar werden? Möglich, aber jeder Tag als glückliche Lina macht das weniger wahrscheinlich. Vielleicht wird es eines Tages einen schlimmen Moment geben, in dem Linas Geheimnis herauskommt, in dem Linas viele Freundinnen erfahren, was an ihr anders ist. Damit wird sie dann umgehen müssen, und ihre Eltern werden sie dabei unterstützen.

Die Konferenz einigt sich darauf, die Angelegenheit vertraulich zu behandeln. Nicht einmal mit allen neuen Fachkollegen wird Linas Besonderheit thematisiert – was würde das auch ändern? Niemandem fällt in den ersten Schuljahren etwas Ungewöhnliches auf. Lina ist beliebt und wird oft eingeladen. Die meisten Freundschaften schließt sie mit Mädchen. Die Eltern machen sich jedes Mal Sorgen, wenn sie bei einer Freundin übernachten möchte – aber Lina scheint damit recht diskret und souverän umzugehen.

Hormonbehandlung – Eingriff in die Freiheit?

In regelmäßigen Gesprächen tauschen sich Klassenlehrer und Eltern über Linas Fortschritte aus und besprechen dabei auch absehbare Probleme: Wie geht sie mit den altersgemäß auftauchenden Fragen im zehnten Lebensjahr um, wenn alle Kinder sich ihrer Besonderheit bewusst werden? Wird sie das in eine seelische Krise stürzen?

Auch die Frage nach der Hormonbehandlung wird sich einmal stellen. Im Gespräch mit Ärzten erwägen die Eltern Pro und Kontra: Tun sie nichts, wird Lina breite Schultern und schmale Hüften bekommen, ihre Stimme wird sinken und die Körperbehaarung zunehmen. Die meisten dieser Veränderungen lassen sich später nicht mehr umkehren. Durch gezielte Verabreichung von Medikamenten kann man die Anzeichen der männlichen Pubertät hinauszögern, bis der heranwachsende Mensch reifer und mehr in der Lage ist, selber zur Entscheidung beizutragen. Eine eventuelle operative Geschlechtsumwandlung kann erst nach der Volljährigkeit erfolgen.

Greift man in die menschliche Freiheit ein, wenn man die Pubertät verzögert, oder untergräbt man die Rechte zur persönlichen Entfaltung, wenn man das nicht tut? Niemand kann den Eltern diese Überlegungen abnehmen – sie müssen selber beurteilen, in welchem Grad sie die Wünsche ihres zehnjährigen Kindes ernst nehmen. Noch gibt es hier keine moralische oder juristische Klarheit. Wir befinden uns auf Neuland. Was weder Lina noch ihre Eltern brauchen, sind Leute, die ihnen suggerieren, mit ihnen stimme etwas nicht. Fast die Hälfte aller jungen Menschen, die sich als ein anderes Geschlecht empfinden, begehen mindestens einen Selbstmordversuch. Als Erzieher, Eltern und Lehrer haben wir die Pflicht, den Bedürfnissen des Kindes so verantwortlich und sensibel wie möglich zu entsprechen. Wenn es niemand anderen einschränkt, was soll uns davon abhalten, einem jungen Menschen in Linas Position alle mögliche Unterstützung zukommen zu lassen?

Soll sich Lina ihrer besten Freundin Maja anvertrauen? Sollen die Eltern Majas Eltern einweihen? Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht eine große oder kleine schwierige Entscheidung gefällt werden muss, und allen ist klar, dass die Pubertät der Mitschüler die Familie in Zugzwang bringt. Das ist Linas Schicksal, und das ihrer Familie. Welche Rolle soll hier die Schule spielen? Muss sich die Frage überhaupt stellen? Schließlich unterstützen wir alle Kinder, so gut wir das können. Ob sie wunderbar Cello spielen, ihre Mutter verloren haben, Legastheniker oder Hochbegabte sind, ob sie kaum Deutsch sprechen oder großartig turnen können – alle Kinder haben etwas, das sie besonders macht, und alle haben ein Recht darauf, dass wir ihnen ihre Besonderheit zugestehen. Sicher werden die Lehrer sorgsam darauf achten müssen, dass mit Lina, wenn sie sich irgendwann »outet«, einfühlsam und fair umgegangen wird. Aber diese Fähigkeiten haben sie hoffentlich sowieso in ihren Klassen angelegt.

Geschlechtergrenzen überwinden

Weil wir im vorigen Jahrhundert aufgewachsen sind, müssen wir aufpassen, dass wir gesellschaftliche Entwicklungen von heute nicht verpassen. Wir tun uns und den jungen Menschen keinen Gefallen, wenn wir sie an alten Maßstäben messen. Nach neuen Umfragen schließen nur 60 Prozent der 18- bis 30-Jährigen in Deutschland von vornherein aus, sich vom gleichen Geschlecht angezogen zu fühlen. In Großbritannien erklären sich 46 Prozent der jungen Leute für komplett heterosexuell, aber nur 6 Prozent für homosexuell. Der Rest sieht sich irgendwo dazwischen. Die alten Grenzen verschwinden, und dafür sollten wir dankbar sein. Einteilung der Menschen nach Hautfarbe, Vermögen, Religion oder Geschlecht engt sie ein, reduziert ihre Freiheit. Wie armselig war das soziale Leben früher, als man als armer weißer Bub nur mit anderen armen weißen Buben spielen durfte! Die aufgeklärten jungen Menschen heute ignorieren solche Kategorien.

Als ich auf der Abschlussfahrt mit meinen Achtklässlern am Lagerfeuer saß und eine Geschichte erzählte, merkte ich, dass ein Junge sich bequem an einen anderen gekuschelt hatte, der ihm selbstvergessen durch die Haare streichelte. Mir fiel das auf – die Mitschüler sahen gar keinen Anlass, es zu bemerken. Vor zehn Jahren hätte es noch ein paar Sprüche gegeben, vor zwanzig Jahren hätte sich das kein Junge getraut. Welch ein Geschenk für diese Generation, in eine Welt hineinzuwachsen, in der man zarte Gefühle für alle Menschen empfinden darf!

Dass der sich entwickelnde Mensch in ferner Zukunft die Geschlechtergrenzen überwinden könnte, hat Rudolf Steiner schon vor hundert Jahren angedeutet. Sehen wir die ersten Anzeichen? Wenn dem so ist, sollten wir allen Pionieren dieser Entwicklung wünschen, in ihrer Kindheit auf liebevolle Erwachsene zu stoßen – vor allem in jenen Schulen, die sich in ihrem Namen der Freiheit verschrieben haben.

Lina ist ein glückliches Kind.

Zum Autor: Sven Saar ist Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Wahlwies in Stockach und macht zur Zeit ein Sabbatical in England.

Trans-Kinder-Netz e.V. Elternverein, der Familien mit Kindern berät, deren geschlechtliche Selbstwahrnehmung von dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht abweicht.