Der atmende Mensch als das Herz des Musizierens

Erziehungskunst | Wie sah Ihre erste Begegnung mit der Musik aus?

Matthias Bölts | Mein Zugang zur Musik begann über den Rhythmus, über die Bewegung – ich spielte als Kind in einer Gruppe mit Orff-Instrumenten Pauke. Als Jugendlicher lernte ich dann mit dem Klavier die unendlichen seelischen Ausdrucksmöglichkeiten kennen. Ich konnte mit Musik Gefühle ausdrücken und die Musik führte mich in unbekannte seelische Landschaften. Vor dem Musikstudium entdeckte ich als Organist die sakrale Dimension der Musik bis hin zu einem religiösen Erleben. Nach meinem Studium kam es zur Begegnung mit der Toneurythmie und dadurch zu einer bis dahin ungeahnten Vertiefung der musikalischen Elemente Harmonie, Melodie und Rhythmik als eigenständigen Entitäten. Durch die Ausbildung in Ton-Heileurythmie hat sich mir der Zugang zu den schöpferischen Kräften, die mit dem »musikalischen Bau« – der Anatomie, der Bewegung, den seelischen Prädispositionen – des Menschen zusammenhängen, erschlossen.

EK | Im 20. Jahrhundert hat sich die Musik sehr verändert. Darin drückt sich auch ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Musik aus. Wie würden Sie dieses Verhältnis beschreiben?

MB | Aus dieser Frage ist 2016 die Initiative »Musik an der Schwelle« entstanden. Die Musik, insbesondere des 20. und 21. Jahrhunderts, kann zu einem Spiegel des menschlichen Bewusstseinswandels werden und Orientierung geben im individuellen Ringen um Zeitgenossenschaft. Wie werde ich wirklich Zeitgenosse, ohne in Denk- und Empfindungsmustern des 19. Jahrhunderts steckenzubleiben? Die Musik ist eng verbunden mit den radikalen gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen unserer Zeit. Sie hat den Prozess der Auflösung vertrauter Strukturen unmittelbar mitvollzogen. Die seelische Dramatik dieser »Schwellensituation« kann musikalisch erfahren werden. Aus der Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik kann man viel lernen über unsere Gegenwart: Komponisten wie Schnittke, Gubaidulina, Pärt, Messiaen und Hosokawa haben in künstlerischer Weise Bewusstseinsveränderungen thematisiert, dass wir als Menschen heute eine Orientierung aus dem Inneren schaffen müssen, dass wir aufgefordert sind, selbst sinnstiftend zu leben und dass es Wege gibt, im Innersten nicht nur subjektive Gefühle zu erleben, sondern so etwas wie ein »selbstloses Selbstbewusstsein«.

EK | Was wollen Kinder und Jugendliche von der Musik?

MB | Kinder haben eine besondere Empfänglichkeit für das »Klangliche« und »Atmosphärische« in der Musik. Sie interessiert oft weniger, ob die Töne und Rhythmen »richtig« klingen. Dafür um so mehr, dass sich z.B. bei einem Cello ein hauchig-luftiger Klang wie der Wind anfühlt, sich die hohen, obertonreichen Quietschgeräusche jenseits des Steges wie ein Gespenst anhören oder wenn man mit viel Druck nah am Steg streicht, eine knarrende, krächzende Tür im Ohr hat. Sie lieben es, einer gezupften Saite oder einem Triangel zuzuhören, bis der Ton in die Stille übergeht. Im Instrumentalunterricht steht für die Kinder oft auch die langjährig-tragende Beziehung zu ihrem Lehrer im Vordergrund. Bei Jugendlichen gewinnt dagegen das Gemeinschaftsgefühl im Chor, Orchester oder in der Band an Wichtigkeit. Es ist ein wunderbares Gefühl, zusammen ein großes Werk zu erarbeiten, Teil eines Projektes zu sein und dessen Reifungsprozess miteinander zu erleben. In Jugendorchestern wird oft den ganzen Tag konzentriert geprobt und die halbe Nacht in freier Initiative Kammermusik gemacht. Es ist ein Erlebnis starker Kommunikation, musikalisch und tiefer, als Worte es vermögen, die ganze Bandbreite der Gefühle hautnah miteinander zu durchleben. Es beglückt, eine romantische Sinfonie zusammen im Konzert »durchzumachen« und zu erfahren, wie der Funke der Begeisterung aufs Publikum überspringt. Jeder trägt Verantwortung im Ensemble. Die Jugendlichen haben das Gefühl, mit dem, was sie tun, etwas in der Welt zu bewegen, gehört zu werden, gebraucht zu werden. Eine Aufführung gelingt nur, wenn alle ihr Bestes geben und an einem Strang ziehen und dabei als Gruppe von der Musik »gepackt« werden. Das kann richtig süchtig machen ... Es hat eine befreiende Wirkung, mit Haut und Haaren die Tragik, die Verzweiflung, die Sehnsucht, die Zärtlichkeit oder den Triumph einer romantischen Sinfonie mitzuleiden. Die Jugendlichen fühlen sich im Innersten verstanden und wahrgenommen und können etwas von sich zum Ausdruck bringen, was sonst in diesem Alter als neu aufbrechende, überwältigende Gefühlswelt quälend im Inneren rumort und um sich selbst kreist.

EK | Welche Bedeutung hat die Musik für die Pädagogik?

MB | Inzwischen ist ja durch viele Studien erwiesen, wie das Musizieren die kreativen, sozialen und kognitiven Fähigkeiten der Kinder fördert. Durch das regelmäßige und tägliche Üben lernt man Ausdauer. Das wiederholende Üben stärkt den Willen – auch wenn es um das Üben in anderen Lebensbereichen geht. Das Einleben in die Musik ist ein Prozess, in dem die Sensibilisierung und Geschicklichkeit in Bezug zur Musik und zum eigenen Körper vertieft wird. Man lernt intensiv hören und aus dem Hören zu gestalten. Diese tiefe Wahrnehmungsfähigkeit fördert auch die Aufnahmefähigkeit. Musizieren ist immer ein ganzheitlicher Prozess. Man braucht die volle Aufmerksamkeit und ist beim Spielen denkend wach, das Gefühlsleben ist unmittelbar beteiligt und der Körper ist voll in Bewegung – alles durchdringt sich beim Musizieren und spielt ineinander. Diese Beteiligung und Integration des ganzen Menschen haben in der Pädagogik einen hohen Wert.

EK | Sie arbeiten mit dem Institut für Notfall- und Traumapädagogik (IINP) zusammen. Bei welchen seelischen Verletzungen brauchen wir unbedingt Musik und wie heilt sie? Welche Erfahrungen liegen vor?

MB | Im Januar 2018 kam an uns die Anfrage von den Freunden der Erziehungskunst: Habt ihr Studenten, die auf einen Notfalleinsatz im Libanon mitkommen wollen? Das war die Keimzelle für unser Projekt »Traumapädagogik mit Musik«, das inzwischen integraler Bestandteil unserer Ausbildung »Musik im Sozialen« ist. Mit Musik ergeben sich viele Möglichkeiten, um aus einer traumatischen Erstarrung herauszukommen und die Seele wieder berührbar und beweglich werden zu lassen: äußere und innere Bewegung zusammenführen sowie Eigentätigkeit und Kreativität fördern. Die Improvisation und die elementare Erfahrung von Rhythmus ermöglichen eine erneute Verbindung der Seele mit dem Leib. Musik vermag zu harmonisieren, zu trösten, zu heilen und Lebensfreude zu wecken. Für den traumatisierten Menschen entsteht wieder ein »sicherer Ort« – in sich und in der Gemeinschaft.

EK | Was muss man lernen, um mit der Musik heilsam zu wirken?

MB | Für unsere Ausbildung in dieser Richtung sind drei Motive entscheidend: Das Bewusstsein, dass der Mensch musikalisch komponiert und gebildet ist und wie das Ineinanderwirken der musikalischen Elemente mit den Seelenkräften Denken, Fühlen und Wollen real funktioniert. Ein lebendiges Menschenbild auf der Grundlage der Anthroposophie, das denkend erarbeitet, phänomenologisch erweitert und meditativ vertieft wird. Die Fähigkeit, situativ mit jedem Menschen einen wirksamen musikalischen Prozess erfinden zu können. Improvisation bedeutet, mit dem Unvorhersehbaren schöpferisch umgehen zu können.

EK | Die meiste Musik ist heute auf unterschiedlichen Medien abgespeichert. Ist das noch Musik? Wo liegen die Risiken, die Chancen und was macht das mit uns – vor allem mit dem jungen Menschen?

MB | Das sind keine einfachen Fragen. Hier ist immer die Gefahr, dass Fundamentalismus entsteht. Musik ist ihrem Wesen nach ein lebendiges, nicht reproduzierbares Geschehen. Ob aus einem Lautsprecher noch Musik kommt oder nur elektromagnetisch verstärkte Schallwellen, ist in erster Linie eine Frage der Wahrnehmung. Es ist ja unstrittig, wie das seelische Erleben intensiver gefühlt wird, wenn die Anlage hochgefahren wird und die Bässe im eigenen Körper erlebt werden. Ich habe an mir selber und in der Arbeit mit Studenten unmittelbar erlebt, wie schwer es ist, aus dieser Erfahrungswelt sich hineinzubewegen in ein innerlich aktives Hören und Musizieren. Die inneren Kräfte werden geschwächt und angegriffen durch den medialen Konsum. Problematisch scheint mir Passivität im Konsum, Überfülle und Überreizung der Eindrücke sowie das nervöse »Durchzappen«. Ein musikalischer Ton muss vor seinem Erklingen innerlich vorgebildet, vorgehört werden. Das ist umgekehrt zu unserem Alltagshören, wo das Ohr aufmerksam wird, wenn uns ein Schallereignis von außen trifft. Musik ist prinzipiell ein intentionales Geschehen zwischen den Tönen. Sie lebt in den Intervallen – besonders hierfür ist eine hohe »innere und aktive Bildung« erforderlich.

EK | Die Corona-Zeit ist eine Zeit ohne Konzerte, ohne Chöre, man könnte sagen, ohne Musik. Was macht das mit uns als Gesellschaft?

MB | Das Leben in Corona-Zeiten ist ein Leben mit dem Unvorhersehbaren. Es ist eine tägliche Übung in Improvisation, Loslassen von Planungssicherheiten und sich Einlassen auf die Möglichkeiten im Hier und Jetzt. Musikalisch gesagt: Improvisieren ist eine schöpferische Tätigkeit, in der das innere Hören und das klangliche Realisieren von Musik gleichzeitig geschieht. Dies erfordert eine gesteigerte und erhöhte Präsenz, in welcher die Empfänglichkeit für Zukunftsimpulse besonders groß ist. Denn Zukunft bedeutet weniger ein »In-die-Zukunft-Planen«, sondern vielmehr ein Er-Hören dessen, was auf mich »zukommt«. Auf das vergangene Jahr rückblickend, müssen wir inzwischen von einer ernsten Bedrohung für die Musik und die musikpädagogische Arbeit sprechen. Das war und ist unmittelbar erlebbar. Gesellschaftlich gesehen liegt eine Art Traumatisierung vor, in welcher der mittlere, atmende Mensch als das Herz des Musizierens zunehmend gelähmt ist. Deshalb gilt es, die besonderen Aufgaben der Musik in sozialer und pädagogischer Hinsicht verstärkt zu ergreifen.

Die Fragen stellte Matthias Niedermann.