Kann Mathematik künstlerisch sein?

Christian Boettger

Einige Mathematiker betonen immer wieder, dass die Mathematik eine Art Vorstufe zur Geisteswissenschaft sei, einer Wissenschaft, die die geistige Seite der Welt und deren Gesetzmäßigkeiten ergründen will. Indem sie zu den schöpferischen Quellen der Wirklichkeit vorstößt, erlangt sie auch eine Bedeutung für die menschliche Kreativität. Allerdings entspricht der augenblickliche staatliche Lehrplan für den Mathematikunterricht einem solchen Anspruch überhaupt nicht. Die Themen des Mathematikunterrichts an den Waldorfschulen hingegen eröffnen immer wieder Möglichkeiten, die künstlerische Seite der Mathematik aufscheinen zu lassen, ohne die fachlichen Anforderungen, die durch die Schulabschlüsse gegeben sind, zu vernachlässigen.

Die folgenden zwei Beispiele aus dem Mathematikunterricht der Oberstufe folgen dem künstlerischen Anspruch auf drei Ebenen:

1. der mathematischen Gedankenbildung,

2. der individuellen Gestaltung von Ergebnissen (beispielsweise in Form eines Epochenheftes, eines Portfolios oder einer Geländekarte)

3. der künstlerischen Gestaltung mathematischer Inhalte.

Mathematische Gedankenbildung als künstlerischer Prozess

Das Bilden mathematischer Gedanken als solches kann als ein künstlerischer Prozess angelegt werden. – Wie geht das? In einem sokratischen Gespräch führt der Lehrer die Schüler durch immer wieder neues Fragen zur Erkenntnis. So werden die Jugendlichen mit dem sie leitenden Lehrer Stück für Stück den Gedanken, der im Mittelpunkt der Stunde steht, gemeinsam formen, gedanklich »plastizieren«. Dabei werden die Antworten der Jugendlichen jeweils verarbeitet und mit einer nächsten Frage auf eine neue Stufe gehoben. Wie in einem künstlerischen Prozess kann es in solchen Gesprächen auch Umwege, Klippen oder überraschende neue Einsichten  geben – nicht nur für die Schüler.

So ist es ein großes Aha-Erlebnis, wenn eine zehnte Klasse im Gespräch ein Messgerät erfindet, mit dem man die Winkel in einem in der Landschaft gesteckten Polygon messen kann. Ein solches Gespräch kann an dieser Stelle nicht dokumentiert werden, aber folgende Fragen können dazu dienen, sich in ein solches Gespräch mit der Klasse einzudenken:

  • Welche Anforderungen muss das Gerät erfüllen, mit dem man Winkel messen könnte?
  • Welche Anforderungen muss eine Winkelscheibe erfüllen, damit der abgelesene Winkel auf ein Tausendstel genau abgelesen werden kann?
  • Warum muss die Winkelscheibe genau waagerecht stehen?
  • Wo muss sich die Winkelscheibe genau befinden, wenn von einem Punkt zu einem anderen eine Richtung genommen werden soll?
  • Mit welchem Instrument kann man auf einer durchsichtigen Winkelscheibe einen Winkel mit einer zweiten oder sogar dritten Stelle nach dem Komma ablesen?
  • Mit welchem Instrument könnte man ein entfernt stehendes Objekt wie eine Fluchtstange am besten genau in der Mitte anpeilen? Wie könnte man überhaupt peilen?
  • Wo muss ich auf meinem Gerät ein Fernglas anbringen, damit ich jeweils genau in der Fluchtlinie eine Messung machen kann? In welche Richtungen muss das Fernglas beweglich sein?

Das Gespräch verläuft dann künstlerisch, wenn die Jugendlichen bemerken, dass sie Partner beim Lösen der Aufgabe sind, obwohl dabei das Ziel – ein echtes Gerät zu verstehen und anwenden zu können – konsequent verfolgt wird.

Künstlerische Verarbeitung des Lehrstoffs

Eine selbstständig verfasste Zusammenstellung der Lernergebnisse, ein Epochenheft oder ein Portfolio, in dem die Jugendlichen den Ablauf und die Ergebnisse ihres Lernens selbst dokumentieren und ihre Gedanken schriftlich ver­fassen, ist wahrscheinlich die geeignetste Form für eine künstlerische Verarbeitung des Lernstoffes durch die Schüler.

In den Epochenheften wird immer wieder deutlich, wie individuell Jugendliche den Stoff zusammenfassen und gestalten. Die Gestaltungsidee für eine einzelne Seite oder die Idee für ein ganzes Heft ist ein erster Schritt, der auch durch die Lehrer angeregt werden sollte. Viel wichtiger erscheint mir aber, dass sich in der Gestaltung eines – wenn auch trockenen Inhalts – das eigentlich Künstlerische vollzieht und die Jugendlichen sich vertieft mit den Inhalten auseinandersetzen, die dann nicht mehr nur inhaltlich geprägt sind, sondern das Gemüt mit dem, was gelernt werden soll, verbinden.

Eine solche Verbindung, die durch die Gestaltung mit den Händen den Willen aktiviert und durch zeichnerisch-ästhetische Elemente das Herz des Betrachters anspricht, macht es leichter, den Inhalt langfristig im Gedächtnis zu behalten.

Beispiel: Geländekarten

Im Landvermessungspraktikum der zehnten Klasse wird Wert darauf gelegt, dass jeder Schüler eine Karte des vermessenen Gebietes zeichnet und danach farbig gestaltet. So wird gerade auch in diesem Praktikum nach der gedanklichen und insbesondere physischen Arbeit noch ein künstlerischer Prozess angeregt. Die Aufgabe ist, nachdem die Daten und Konturen der Karte mit Bleistift oder eventuell auch Tusche angelegt worden sind, die farbliche Gestaltung so anzulegen, dass die Gesamterscheinung ausgewogen und durch die Farbunterlegung besser zu lesen ist als ohne. Die Karte ist also nicht nur wie ein Epochenheft eine Ergebnisdarstellung, sondern eine künstlerische Reflexion der Arbeit selbst. Die Karten zeigen neben den Messdaten und dem wiedererkennbaren Gesamtbild deutlich die mehr innere Seite, den Gestaltungswillen und das ästhetische Empfinden der Jugendlichen.

Im Zusammenhang mit geometrischen Zeichnungen wird oft gefordert, dass nach der sauberen Konstruktion auch auf die farbliche Gestaltung und eine harmonische Anordnung Wert gelegt wird. Dabei merkt man als Lehrer, dass durch solche Aufgabenstellungen die Schüler zusätzlich angesprochen werden, die sonst vielleicht weniger Interesse an der Mathematik als solcher finden.

Beispiel: Projektive Geometrie

Die Epoche zur Projektiven Geometrie ermöglicht wie kaum eine andere Epoche, verschiedenste künstlerische Elemente zu verwenden.

Die zentrale Frage dieser Epoche ist die Entwicklung eines Begriffes der sogenannten Fernelemente: Der Fernpunkt als gemeinsamer Punkt von zwei oder mehreren parallelen Geraden und die Ferngerade als gemeinsame Gerade von zwei oder mehreren parallelen Ebenen. Wenn eine Epoche durch ihr zentrales Thema die Denkgewohnheiten aufbricht, ist das für mich schon ein künstlerischer Akt, der allerdings auch in der Arbeit selbst ein künstlerisches Herangehen notwendig macht, um die Inhalte freilassend und vielfältig herüberzubringen. Von den erfahrenen Kollegen wird dies in der Regel durch eine Vielzahl an Konstruktionen mit den Jugendlichen durchgeführt, die immer wieder in die Frage münden, wie man durch eine einfache Erweiterung des Satzes »Zwei Geraden (Ebenen) schneiden sich immer in einem Punkt (einer Geraden bzw. Ebene)« die Ausnahme des Falles vermeiden kann, dass die beiden Geraden (Ebenen) parallel verlaufen. Auf die Einzelheiten soll hier nicht eingegangen, sondern auf die vielfältige Literatur verwiesen werden (siehe Literatur).

Anhand der Gestaltungsidee einer Schülerin der 11. Klasse in einer zusammenfassenden Zeichnung, die im Farbeinsatz ohne viel Erklärung die Konstruktion selbst und die wesentlichen Erkenntnisse dokumentiert, sei an dieser Stelle der Wert der künstlerischen Gestaltung verdeutlicht.

Aufgabe war, den Kreis auf der senkrechten Ebene, der durch das eingeschriebene Sechseck vereinfacht werden kann, über das Zentrum z und die Fixgerade, die sich als Schnittgerade der horizontalen und der vertikalen Ebene ergibt, auf die waagerechte Fläche zu projizieren. Die Schülerin verlängert nun die parallelen Seiten des Sechsecks auf der vertikalen Ebene in drei Farbstreifen (gelb-orange, blau, grün), die sie als parallele Farbstrahlen auffasst. Das Bild der senkrechten Ebene ergibt auf der waagerechten Ebene nun eine perspektivische Darstellung der Situation. Der Horizont ist die Schnittgerade der senkrechten und der waagerechten Ebene. Die Fluchtpunkte befinden sich auf dem Horizont. Sie werden als »Bilder« der Fernpunkte der Parallelen des Sechsecks konstruiert, indem je eine Parallele durch das Zentrum z mit dem Horizont geschnitten wird. Ein Fluchtpunkt P1, P2, P3 wird als Fernpunkt der Parallelen I, II, III aufgefasst. Durch den Schnitt oder die farbliche Überlagerung der Bilder der drei Strahlbereiche der senkrechten auf der waagerechten Ebene entsteht auf der waagerechten Ebene das Sechseck, die Abbilder der parallelen Strahlen sind auf der waagerechten Ebene Strahlen durch den jeweiligen Fluchtpunkt. Der Kreis aus der senkrechten Ebene wird einfach als Handzeichnung zu einer Ellipse auf der waagerechten Ebene ergänzt.

Es wird deutlich, wie viele Worte es braucht, um den bildhaften Sachverhalt für einen nicht im Prozess befindlichen Menschen plausibel zu machen. Wenn es zum Beispiel einer Schülerin der 11. Klasse gelingt, das Ergebnis ihrer Konstruktion zeichnerisch so darzustellen, dass auf einen Blick verständlich wird, was sie bei der Konstruktion gedacht hat, ist das eine im höchsten Maße künstlerische Leistung. Gedankenbildung wird künstlerisch sichtbar.

Zum Autor: Christian Boettger ist Geschäftsführer beim Bund der Freien Waldorfschulen und in der Pädagogischen Forschungsstelle. Er war Oberstufenlehrer für Mathematik und Physik an der Waldorfschule in Schopfheim.

Literatur: P. Baum: Mathematikthemen für die 11. Klasse, Kassel 2006 | A. Bernhard: Projektive Geometrie – Aus der Raumanschauung zeichnend entwickelt, Stuttgart 2015 | I. Diener: Projektive Geometrie – Denken in Bewegung, Stuttgart 2017 | A. Stolzenburg: Projektive Geometrie, Stuttgart 2009 | W. Altemüller: Feldmessen, Stuttgart 2018 | V. Urbantat: Feldmessen, Stuttgart 2017