Kanon und Goldgrund. Eine rumänische Waldorfschule bringt Roma-Kindern die Kunst nahe

Ulrika Eller-Rüter

Die eigene Welt mit Kunst zu gestalten – und das mitten im Unterdorf von Rosia, wo der Einzelne in Großfamilien in zerfallenen Einraumhäusern lebt, oftmals nicht einmal ein eigenes Bett, geschweige denn einen eigenen Lebensraum hat und natürlich kein Profikünstler ist: Das war das  Konzept. Um sich selbst im künstlerischen Tun als schöpferische Akteure zu entdecken, den eigenen Innenraum wie auch den Außenraum bewusst wahrzunehmen, auto­biographische Spuren zu sichten und eigene Wertsysteme zu reflektieren, sollten sich Jugendliche in der Pubertät der Klassen 7 bis 10 mit diesem Projekt auseinandersetzen. Die Phase der Pubertät stellt eine besondere Hürde in der Lernbiographie der Roma in Rosia dar. Parallel zu großen psychischen und körperlichen Umbrüchen sind die Jugendlichen von 14 bis 15 Jahren schon mit Eheschließung und Familiengründung befasst. Sie zeigen oft ein geringes Interesse an einem Schulabschluss. Gewalttätigkeit, Umweltprobleme, soziale Benachteiligung und Zukunftssorgen bestimmen ihre Weltsicht.

Der Schlager aus dem vergangenen Jahr sitzt noch

Die Basis für das Projekt bildete der Schulchor. Dicht gedrängt standen jeden Morgen nach dem Hauptunterricht rund achtzig Schüler von Klasse 1-10 in der Kantine zusammen, um vierzig Minuten mit Friedemann Geisler Kanons und Rhythmen einzuüben: von »Viva la musica, über »I like the flowers« bis zu »Shalom alachem«. Eine erstaunliche Aktion, denn die Schüler bis in die hohen Klassen machten begeistert und diszipliniert mit. Der Schlager »Adjau ma muna djoé«, im vergangenen Jahr eifrig geübt, funktionierte noch ad hoc.

»Making Worlds« wurde in unterschiedlichen bildnerischen Workshops realisiert, die eine Woche lang zweimal täglich stattfanden und – eröffnet von einem kleinen Konzert – in eine sorgfältig vorbereitete Abschlussausstellung mündeten: Die Klasse 7 befasste sich mit dem Thema »Licht« in Goldgrund- und Glasmalerei. Nach Grundlagen-Übungen sollte jeder Schüler das für ihn Kostbarste, Wichtigste in kleinformatigen »Ikonen« auf Goldgrund festhalten. Die Tradition der rumänisch-orthodoxen Ikonenmalerei lernten die Kinder bei einem gemeinsamen Besuch der Dorfkirche kennen. Voller Begeisterung vertieften die Kinder sich in die Arbeit, pinselten mit Akribie in stundenlanger Ausdauer Heilige, Engel und Blumen. Sogar die kernigeren Jungs hingen stundenlang mit der Nase über ihren Bildchen und schauten erst wieder auf, als ihr Werk vollendet war. Keiner stellte als Kostbarstes seinen Lieblingsstar dar!

Licht spielte auch die zentrale Rolle in der großformatigen Glasmalerei im Eingang des Klassenpavillons. Jeder Schüler war verantwortlich für eine Farbe. Im gemeinsamen Tun entstand eine bunte Landschaft, die der herrlichen Karpaten­silhouette nachempfunden war. Zur Krönung der Arbeit durfte jeder noch eine kleine Hinterglasikone malen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Kinder in ihrer Ausdrucksweise von Bild zu Bild immer differenzierter und geschickter wurden.

Das eigene Leben wird zum Buch

In der achten Klasse wurde zum Thema »Hell – Dunkel« gezeichnet. Frottagen regten an, die Oberfläche der Dinge genauer zu beobachten und schnell eine Phantasielandschaft zu zaubern. Durch eine Reihe von Übungen, die sich im Schwierigkeitsgrad steigerten, machten die Schüler eine beachtliche Entwicklung durch und sie waren recht stolz auf ihre guten Ergebnisse. Sie konnten sich mittels differenzierter Helldunkelwerte und klarer Konturen den Bildraum »erobern« und ihren Arbeiten tiefenräumliche Wirkung verleihen. Betrat man während der Übungen den Klassenraum, so herrschte eine emsige Stille. Sogar »schwierige« Jugendliche waren hoch motiviert, machten durch die fürsorgliche Betreuung der Kursleiterinnen beachtliche Fortschritte und wuchsen weit über sich hinaus. In der zehnten Klasse ging es um die Illustration von Lebensgeschichten in unterschiedlichen Buchformen. Das Team gliederte die Arbeit in einen technischen Teil am Morgen, in dem die Bücher hergestellt und einen künstlerisch-gestalterischen am Nachmittag, in dem sie mit Inhalt gefüllt wurden, zum Beispiel als Tagebuch. Die Schüler lernten unterschiedliche Bindearten kennen, wie die Lagenbindung, den Leporello, das Dreiecksfaltbuch und ein Faltbuch in Haus-Form. Das Interesse an dem Workshop war so groß, dass sogar Ehemalige wieder in die Schule kamen, um Bücher für sich zu binden. Dankbar nahmen sie die Anregungen für ein handwerklich präzises Arbeiten auf. Manches Talent kam ans Licht.

Bei der Gestaltung von »Lebensgeschichten« aus der eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fiel auf, in welch einfacher, stereotyper Zeichensprache sich die Schüler ausdrücken. Wichtig war hier weniger die Entwicklung gestalterischer Fähigkeiten, als der persönliche Bezug, die Authentizität und die Identifikation mit der eigenen Arbeit: das Buch als persönlicher »Raum«.

Kurse für Lernbehinderte und Mütter

Schüler mit Lernbehinderungen aus der siebten und achten Klasse arbeiteten parallel zu den bildnerischen Workshops zum Thema »Rhythmus«. Das war kein leichtes Unterfangen, da gerade diese Schüler eine sehr geringe Konzentrationsfähigkeit hatten und kaum die Hände und Füße koordinieren konnten. Als die sechste Klasse hinzukam, war die Situation entspannter für sie, da sie in eine Gruppe integriert waren, in der es auch »Könner« als Orientierung gab. Für die jüngeren Klassen, die nicht mit Workshops »versorgt« wurden, gab es nachmittags im »Offenen Atelier« Angebote für T-Shirt-Druck, Malen und Bänderflechten, die gern angenommen wurden.

Ein besonderes kulturelles Ereignis stellten die Kurse für Mütter aus dem Unterdorf dar. Vier Mütter waren zum Singen gekommen, um die Kanons kennenzulernen, die ihre Kinder morgens übten. Mit Begeisterung trällerten sie vielstimmig. Am nächsten Abend kamen zum Malkurs schon sechs Mütter und malten wie die siebte Klasse auf goldgrundierten Malpappen ihre »Ikonen«. Wie ihre Kinder arbeiteten sie mit Feuereifer und höchster Genugtuung.

Schule vor dem Ende?

Insgesamt war das Projekt eine runde Sache, da das vor gut einem Jahr Angelegte sichtbar und hörbar fortentwickelt werden konnte. Um die Nachhaltigkeit »nachhaltig« zu gewährleisten, wäre es sinnvoll, die Arbeit fortzusetzen. Doch gilt es zunächst die Existenz dieser Schule zu retten. Der Staat hat vor einem Jahr schon die finanzielle Förderung der Berufschule eingestellt, so dass in Rosia der Unterricht ab Klasse 8 beendet werden muss. Jetzt hat sich durch die Staatsverschuldung die politische Situation eklatant verschärft und die alternativen Schulformen sollen mit den öffentlichen im Hinblick auf die Schülerzahlen und eine damit verknüpfte Budgetierung gleichgeschaltet werden. Die Waldorfschule in Rosia, die zur kulturellen Integration einer Minderheit beiträgt und auf EU-Ebene im Rahmen des Kunst in Schulen-Projektes als förderungswürdig erachtet wird, muss erhalten bleiben.