Karriereleiter oder Schlammrutschen. Wie Kinder das Leben verändern

Alexandra Handwerk

Mit dreißig wusste ich, wie es läuft. Ich war gut ausgebildet, selbstbewusst, kannte meinen Marktwert und war mit genau dem richtigen Mann verheiratet. Die Welt stand mir offen. Bis hierhin war ich in jedem Lebenszusammenhang die jüngste gewesen. Die Jüngste von fünf Geschwistern, dann im Beruf die Jüngste auf der Karriereleiter. Mein Blick war bis zu diesem Zeitpunkt immer nach vorn gerichtet – und traf fast ausschließlich auf Menschen, die gleich alt oder älter waren als ich.

Dann wurde ich schwanger. Eine Überraschung. Erst auf den zweiten Blick keine unangenehme Überraschung. Ich mit Baby? Schwer vorstellbar. Ich hatte bis dahin zweimal in meinem Leben kurz ein Baby in meinem Arm gehalten. Das war alle Erfahrung, die ich mitbrachte. Dann im 9. Monat noch ein Umzug in eine fremde Stadt, keine Zeit für einen Geburtsvorbereitungskurs, nur ein paar Treffen mit der Hebamme.

Mit dreißig war mein Erfolg programmiert. Ich wusste, in welchem Zusammenhang man sich wie bewegt. Wie man Fähigkeiten vorgaukelt, die die nächste Karrierestufe ermöglichen. Wie man einflussreichen Menschen Honig um den Mund schmiert, sodass sie für dich stimmen. Wie man eine Meinung streut, die man in der nächsten Woche als allgemeine Stimmung braucht. Wie man lügt, wie man durchschaut, wie man eine Strategie plant und politisch agiert.

Ich wusste nicht, dass ein eben geborenes Kind mir mitten ins Herz schaut, mir bedingungslos vertraut, in mir sein geliebtes Vorbild erkennt. Ich hatte ja keine Ahnung, dass dieses Kind mich in jedem Handgriff so ernst nehmen würde, wie ich mich selbst bis dahin nicht ein einziges Mal. Ich ahnte ja nicht, dass es in mir Sinn und Wahrheit und Wirklichkeit vermutete – und unbedingte Liebe und Hingabe und Selbstlosigkeit.

Mit dreißig gab es gute Plätze auf der Erde und weniger gute. Gute waren klimatisiert, geruchsneutral, geschmackvoll eingerichtet und bequem mit dem Flugzeug plus Taxi oder dem eigenen gehobenen Mittelklassewagen zu erreichen. Weniger gut waren alle anderen Plätze.

Ich kannte sie, ich hatte mich daraus hochgearbeitet und wollte sicher nicht wieder tauschen. Man muss schließlich Ziele haben.

Gute Plätze sind solche, an denen es etwas zu staunen und zu entdecken gibt. Sie sind bei jedem Wetter gleich gut und sollten in der Regel zu Fuß zu erreichen sein oder mit so wundervollen Erfindungen wie einem Bus oder einer Straßenbahn. Weniger gute Plätze sind die, wo wir nicht willkommen sind, wo wir stören – oder uns unbedingt irgendwie verhalten müssen. Sterile Plätze, wo es nichts zu entdecken gibt, wo nichts entdeckt werden darf.

Wir aber wollen gern verweilen, entdecken und staunen.

Mit dreißig gab es eine klare Menschenordnung: Es gab Vorgesetzte, Chefs, wichtige Kunden, Büroleute, Frontleute, Konkurrenten, VIP's, Azubis, Verwandte … Auf manche hörte ich, manche hörten auf mich. Je nach Position. Änderte sich die Position, war es nur logisch, dass sich auch das Verhältnis änderte. Schließlich kann man einen Absteiger nicht behandeln wie einen Aufsteiger.

Fünf Jahre später gibt es schon vier kleine Menschen um mich. Schlecht fühlt es sich an, wenn ihnen gegenüber zwei schimpfende Erwachsene Chefs sind und sie sich wiederfinden als die Große, der Kleine, der Quatschkopf, der Streitsucher, die Langsame, der Dumme, die Laute, der Schmutzfink, die Heulsuse und ähnliches mehr.

Gut fühlt es sich an, wenn es gelingt, durch all diese Schichten und Rollen und Zuweisungen hindurchzulieben und den kleinen Menschen zu entdecken, der bedürftig ist. Bedürftig, gesehen zu werden, gesehen zu werden von mir, seiner Mama. Weil ich doch sein Versprechen bin, dass er Mensch werden darf, mit allem, was dazu gehört. Und was gehört nicht alles dazu!

Mit dreißig war ich soweit, dass ich gelernt hatte, Fehler zu vermeiden. Das ist an einem bestimmten Punkt der Karriere notwendig. Vorgesetzte müssen sich darauf verlassen können, dass man nicht versagt, dass man Leistung bringt, dass man nicht wegen jeder privaten Kleinigkeit große Geschäfte gefährdet.

Meine Jungs machen Hausaufgaben und amüsieren sich königlich. Ich höre sie so lachen, dass ihnen beinahe die Luft wegbleibt. Der eine sollte noch einen Text abschreiben, der andere ein Bild fertig malen. Was ist daran so witzig? Ich schleiche mich aus der Küche an. Der Text ist makellos sauber abgeschrieben, das Bild fertig. Jetzt sitzen sie einig über ihre Werke gebeugt und machen aus jedem i-Punkt ein Smiley mit jeweils unterschiedlichem Gesichtsausdruck. Das Pferd aber auf dem Bild hat inzwischen fünf Beine. Ich schleiche mich leise wieder raus. Soll ich? Soll ich nicht? Und dann lache ich einfach mit. Weil dieses Pferd wirklich urkomisch aussieht und ich plötzlich verstehe, dass es ja keine Herausforderung mehr gibt, wenn das einzige, was man lernen darf, ist, dass Pferde auf Bildern vier Beine haben.

Mit dreißig war ich cool. Nicht so jugendcool. Nein. Erfolgs­cool. Den richtigen Spruch im richtigen Moment. Zwei, drei Witze, die auf jeden Fall ziehen. Die Augenbraue, deren Zucken alles sagt. Lächeln nie aus Zufall.

Elegante Kleidung in Grautönen oder rein schwarz. Pumps und im Winter Stiefel. Natürlich schwarz. Regenschirmknirps immer dabei.

Zwei-, dreimal habe ich hilflos zugeguckt, wie die Schuhe an den Füßen meiner Kinder erbarmungslos in der nächsten tiefen Pfütze versenkt wurden. Dann ein kräftiger Sprung – jetzt war auch die Hose nicht mehr zu retten …

Ein heftiger Regenguss im Spätsommer. Dürfen wir raus, Mama? Kommst Du mit? Was tun? Eine neue Kleiderordnung: Badehose und Regenjacke mit Kapuze. Und dann barfuß raus. Wer kennt dieses Gefühl? Die Straße bergauf, entgegen dem gurgelnden Seitenstrom. Das Wasser rauscht um die Knöchel. Mit Anlauf in die erste große Pfütze. Wir sind an einem Weinberghang. Löß fließt in gelbbraunen Flüssen herab. Sammelt sich zu Schlammpfützen, die der Blick nicht durchdringen kann. Vorsicht. Du weißt nicht, wie tief es wird, wie rutschig.

Der Schlamm ist seidenweich und lässt sich wunderbar zu einer Strumpfhose machen. Der Regen wäscht sie wieder ab. Kommen wir durch das Gras bergauf? Viel zu rutschig. Also Schlitterbahn. Wer bleibt auf den Füßen?

Mama, das war soooo cool. Danke. Danke? Danke, dass ich Kinder habe.

Mit dreißig war ich rhetorisch gut geschult. Korrekte Anrede, kurze Sätze, informativ und unterhaltsam, bitte nicht zu persönlich. Standardformulierungen für Geschäftsbriefe, Einladungen und Dankesschreiben. Sicheres Auftreten. Vorzeigbar.

Es gibt so schöne Kinderbücher. Leider nie genug. Manche kann ich inzwischen fast auswendig, so oft wurden sie mir abverlangt. Was ist ein Kinderleben ohne Geschichten? Kaum eine Lebenssituation, die nicht einer Geschichte bedarf.

Der Abend, ja natürlich, aber auch die Fahrt, die Reise, die Krankheit, das Fest, die Langeweile, der Spaziergang, ach,

eigentlich alles. Oft liegt das Buch zu Hause. Und irgendwann springt man das erste Mal, erzählt frei, springt mitten in eine Geschichte und sucht verzweifelt ihren Ausgang.

Die erste ist kurz, brüchig, unlogisch und mit bitterem Ende, oder klein, hässlich und langweilig. Macht nichts! Sie ist ein erstes Original. Und wird sofort als solches anerkannt. Die Fähigkeit wächst mit der Übung. Bald werden Fortsetzungen verlangt. Die Geschichten wachsen mit den Kindern. Sie werden spannender und persönlicher.

In den Geschichten wird geweint und gestritten, werden Lösungen gesucht und schlimme Fehler gemacht, werden Freundschaften verraten und Geheimnisse ausgetauscht. Was halt gerade dran ist. Das Leben ist die spannendste Geschichte.

Mit dreißig war mein Leben in Karriereschritte eingeteilt, die ich die kommenden dreißig Jahre abgearbeitet hätte. Nichts dem Zufall überlassen, exakte Planung allein wird belohnt.

Jedes Jahr ändert sich alles. Nicht nur vier Klassenstufen und vier Kleidergrößen. Nein, alles. Und das auch noch unvorhersehbar. Man muss eines werden: entwicklungsgeschmeidig. Nicht hinterherhinken, nicht vorauszwingen. Leben entsteht im Gelebtwerden. Diese plötzlichen Brüche; mit 13 plötzlich Meinungen zu verkünden, von denen gestern noch niemand ahnte, dass sie heute da sein werden. Und im gleichen Moment muss ich einwilligen, dass mein Kind ab sofort so ist und so ernst genommen werden will – und morgen vielleicht schon wieder ganz anders ist und sich selbst kaum wiedererkennt.

Da ist die Kontinuität plötzlich nicht mehr in uns, sondern zwischen uns, in dem, was uns beide verbindet. Was sich gebildet hat in dreizehn Jahren Beieinandersein. Bin ich froh, dass wir uns vertraut sind und im Gespräch sind und uns Zeit nehmen können und miteinander lachen können. Das ist unsere Basis. Darauf kann viel wachsen, was ich nicht mal ansatzweise überschaue – was einst Du sein wirst, wenn Du mal so alt geworden sein wirst, wie ich es jetzt bin. Wirst Du diese Basis lieben können? Wird sie Dich in Deinem Eigensten gefördert haben?

Mit dreißig waren die Abende Feierabende. Oft sind wir nach der Arbeit noch was Trinken gegangen, haben den Tag noch mal durchgehechelt. Manchmal brauchte ich auch meine Ruhe und habe einfach ferngesehen und ein Glas Wein oder einen Gin Tonic dazu getrunken.

Zeit ist ein kostbares Gut geworden, Raum auch. Ich weiß gar nicht mehr, was ich früher mit all meiner Zeit angefangen habe. In meine heutige Zeit, in meinen heutigen Raum werfen alle ihre Netze aus: Planungsnetze. Schule, Musikunterricht, Sport werfen Hausaufgaben, Übzeiten und Turniere in den freien Raum. Aufführungen türmen sich auf Sommer und Weihnachten zu. Alles wird planmäßig erledigt. Aber das eigentlich Kostbare sind die Zeiten und Räume, die wir uns dazwischen schaffen. Manchmal schaffen wir das auch nicht.

Manchmal muss erst einer krank werden, damit wir wieder merken, was gefehlt hat. Was uns rettet sind Gäste. Solche, denen wir von Herzen gern Raum und Zeit geben. Die alle Planungen durcheinander werfen und die wenigen Stunden beieinander zu einem Fest machen. Wir sind gut geworden darin, diese Feste zu erkennen und zu feiern.

Am besten feiert es sich mit denen, die auch Fragende geworden sind und Tastende im Kunstwerk Leben. Die so jung geworden sind, wie sie es mit dreißig nie waren.

Zur Autorin: Alexandra Handwerk ist freischaffende Anthroposophin