Kein Roman von Rafik Schami

Valentin Hacken

Ankommen

Die Bahn hat Schwierigkeiten, höhere Gewalt, aber S. und ich finden, es ist noch zu früh für Notstandshandlungen und bummeln durch den »Frankfurt Flughafen Fernbahnhof«. Die Lebensmittelgeschäfte könnte man von Erscheinung und Einrichtung her in ländlichen Gebieten gut als Edelboutiquen durchgehen lassen und auch die Preise von Sushi-Salat-Couscous-Variationen sind beeindruckend. Leider ist außer uns niemand unterwegs, den man fragen könnte, wie das StGB Diebstahl definiert und so begnügen wir uns mit Obst und Zigaretten. Die S-Bahn zur Messe ist voll. Mich erstaunt weniger, dass die meisten Länder Vertreter herbeigeordert haben, sondern mehr, dass alle wach sind. Überall wird gesprochen, meistens englisch und nicht immer ist klar, ob das Handy oder der Nachbar Adressat der Botschaften ist. Wer schon einen Ausweis der Buchmesse trägt, hat dazu die passenden Augenränder und sich wohl schon auf den diversen Empfängen der Verlage herumgetrieben. An der Messe angekommen wird uns wieder klar, dass Frankfurt am Main als Stadt viel zu klein für den langen Namen ist, die markanten Skyline-Bauten drängeln sich auf engstem Raum und scheinen wie wir auf die Messe zu schauen, nur von weiter oben.

Als die Hostess am Presseschalter auch im dritten Anlauf mit ihrem Zwei-Finger-Tipp-System an S. Nachnamen scheitert, bekomme ich Lust, sie nach den Maßnahmen des Jobcenters zu fragen, die ihr hier ein paar hektische Stunden beschert haben müssen. Aber S. Blick warnt mich und ich falte lieber stumm meinen Messeausweis in ein Format, das der Plastikhülle ähnelt und befestige ihn an meiner Hose. Am Ende der fünf Messetage werden 280.194 Besucher auf 7.384 Aussteller aus 106 Ländern getroffen und 3.200 Veranstaltungen über die Bühnen gegangen sein. Wir betreten nach kurzen Orientierungsschwierigkeiten als zwei von etwa 10.000 Journalisten bei blauem Himmel und leichtem Wind das Gelände. Ich überschlage, dass heute etwa 640 Veranstaltungen stattfinden müssen und wir bei einer Verweildauer von zwei Minuten pro Stand heute etwa 4 % des Messeangebots besichtigen können. S. sucht die Island-Halle auf dem Messeplan und ich etwas zum Festhalten.

Schauen

Auf dem Innenhof zwischen den Messegebäuden ist von der »Internationalen Automobil Ausstellung« (IAA) ein Ufo übrig geblieben, das sich schwarz-weiß und futuristisch geschwungen an den Boden schmiegt, als wollte es unter keinen Umständen wieder abfliegen. Neben einem Kinosaal befinden sich Arbeitsräume für Journalisten. Der Sponsor Audi hat einige seiner Modelle stehen lassen, beflissene Promoter helfen einem übergewichtigen SWR-Redakteur aus den Ledersitzen und sind wohl zu freundlich, um ihm die Preisklasse des panzerähnlichen Geländewagens zu nennen. Im Pressezentrum sammeln wir Veranstaltungslisten und Grußworte ein und übergeben unsere Jacken. Eine Weile stehen wir staunend vor der Installation von Christopher Baker, 132 Thermodrucker wie man sie von Kassen kennt, drucken laufend und sortiert Twitter-Nachrichten. Es könnten auch Belege für die aktuell verkauften Buchlizenzen sein.

Draußen auf dem Gelände ist viel zu finden, nur keine Bücher. Es gibt Stände, die sich auf einem Wochenmarkt genauso wohl fühlen würden wie auf einer Kirmes, Bockwürste und Nutella, verschiedene Initiativen protestieren gegeneinander und für einen kleinen skurrilen Moment ist man geneigt, auf einen Ringkampf zu hoffen, der hier im kleinen die größeren Probleme stellvertretend und ritterlich klärt.

Dem Ehrengast der Buchmesse, Island, hat man eine edle, dunkle Halle eingerichtet. Auf riesigen Leinwänden sehen wir überlebensgroß Menschen schweigend lesen, es sieht behaglich aus, als hätte man sie mit ihrem liebsten Buch an ihren Lieblingsort gesetzt. Unvermittelt beginnen sie kurze Passagen vorzulesen in einer kehligen Sprache, von der außer den Namen sehr wenig zu verstehen ist. Gunnar Gunnarson, Hallidór Laxness, Ragnhildur Jóhanns. Vor wunderbar weiten Landschaftsaufnahmen diskutieren Übersetzer über vollständig unbekannte Werke isländischer Autoren und die Vorzüge der verschiedenen Fassungen. Es sieht ein bisschen aus, als würde alles schweben, das einzige Licht verstrahlen die lesenden Isländer. S. und ich finden in der fensterlosen und rundum schwarz ausgehängten Halle ein kleines Café, das den Wohn- und Arbeitszimmern der Videoinstallationen ähnelt. Die beflissenen Kulturbetriebsdamen und knorrigen älteren Herren gefallen uns zwar, aber die Unruhe zieht uns schnell weiter. Ich notiere innerlich, dass Island mittels der Aufnahmen alle Klischees zu erfüllen droht: weite, schöne Landschaften; spröde Menschen; lange Sagen. Es fehlen nur die obligatorischen Elfen und Trolle. Die sind allerdings über die ganze Messe hin nicht aufzutreiben.

Kaum haben wir die meditativ beruhigte Island-Halle verlassen, beginnt das Durcheinander; das Kollektiv ist gekommen und zwar vollständig. Ich wünsche mir dringend vier Arme oder eitrigen Ausschlag, um die Menschen abzuwehren, die mir Zeitungen und Flyer reichen wollen und folge S. zu dem Stand von dtv. Auf einer Bistrotafel sind die Lesungen des Tages angekündigt, adrette Verlagsmitarbeiter verteilen Orangensaft und lächeln unermüdlich, warum eigentlich? Nach etwas mehr als zwei Stunden sind wir die Stände der größten Verlagshäuser abgelaufen und sind etlichen Veranstaltungen aus dem Weg gegangen. Veranstaltung wird hier definiert wie Demonstration, also ab drei Personen. An jedem Stand, neben Garderoben und unter Rolltreppen wird vorgelesen und diskutiert, ob mit oder ohne Publikum, in jedem Fall mit Lautsprechern in einem ungesunden Frequenzbereich. Die wirtschaftlichen Perspektiven von eBooks, Rechtehandel im digitalen Zeitalter und andere, eher technisch-wirtschaftliche Themen bewegen die »Frankfurt Academy« der Buchmesse unter englischen Überschriften; die Verlage wiederum lassen ihre Starautoren lesen, preisen Bestseller und Prestigeobjekte an. Am Stand der ZEIT tut Charlotte Roche, was sie immer tut. Weil die Aufzählung von Geschlechtsorganen in Abwesenheit jeglicher kunstvoller Sprache schon genug andere fesselt, eilen S. und ich weiter, vorbei an Richard David Precht, der tatsächlich neben all den Talkshows auch noch neue Bücher schreiben kann und versuchen, nicht über unschön auf dem Boden verteilte Stapel von Philip Rößlers Biographie zu fallen. Da alle FDP-Witze schon gemacht sind, fällt mir keiner ein. Auch nicht zu einem der erfolgreichsten Bücher des letzten Jahres, das heißt ja schon von selbst »Hummeldumm«. Es gibt keinen Meter Messegelände ohne Stand, sei er noch so klein und nur mit Katzenkalendern gefüllt oder Bastelbüchern für Papierflieger.

Die ARD belegt eine eigene Halle im Format eines Bundesligafußballfelds und bewirbt dort die Kultspießigkeit »Tatort«. Aber das lässt sich gut aushalten, denn mitten auf dem ARD-Podium steht Denis Scheck, der »Streiter für das Gute, Schöne, Wahre«, dessen monatliche Sendung »druckfrisch« ich mangels Fernseher immer im Internet anschaue. Er bringt Licht in die gut 90.000 Neuerscheinungen, die jedes Jahr auf dem deutschen Literaturmarkt aufschlagen. Und er macht das wundervoll unterhaltsam. Der rundliche Mann lässt vergessen, dass man eigentlich Mathias Matussek sein aktuelles Buch hinterher werfen sollte und dass S. und ich zwischen den Ständen der christlichen Verlage drei Mal hintereinander auf die Heimsuchung Margot Käßmann getroffen sind, deren Konterfrei ohnehin schon ausreichend für ihre substanzlosen Bücher wirbt, bis wir uns zu den Hallen der internationalen Verlage retten konnten. Mit Denis Scheck ist auch die Frage wieder da, was das hier eigentlich alles soll.

Träumen

Hinter dem Stand des Regalherstellers Paschen setzen S. und ich uns, sind froh, dass niemand uns sieht und für einen Moment Ruhe herrscht. Das hier ist eine Handelsmesse, kein schöngeistiger Literatentreff. Überall sieht man Menschen in Besprechungen, Verhandlungen; Rechte, Druckauflagen, Preise. Niemand liest ein Buch. Von arabischen Medizinverlagen über französische Fachverlage für Restaurierungen, von Rechtehändlern bis zu Fotobörsen, von Druckereien bis Zeitungsverlagen ist alles da, was nur irgendwie mit Büchern zu tun haben kann. Eine etwas desorientierte ältere Dame setzt sich zu uns. Ich würde sie gerne zu Rafik Schami schicken, der gerade sein neuestes Buch signiert. Wahrscheinlich war das meine Vorstellung von der Frankfurter Buchmesse, dass es ein bisschen so sein müsste, als ob man in einen Roman von Rafik Schami klettert, die bunten Geschichten aus der Luft klauben kann wie tropische Früchte. Ich schaue mir S. genau an und überlege, ob er sich in eine Romanfigur verwandelt, wenn ich ihn nur lange genug zwischen den Ständen hin- und her schleppe. »Wasch‘ mir den Pelz, aber mach mich nicht nass« geht mir durch den Kopf. Wer Bücher kaufen will, muss eben auch eine Buchindustrie haben. S. geht noch ein paar schräge Fotos knipsen und ich rauchen. Danach befreien wir unsere Jacken aus dem Audi-Ufo, der Blick schraubt sich vom Messeplatz hoch, schwingt sich an den Bankentürmen vorbei und folgt dem ICE, der in Richtung Süden rauscht. Hoffentlich fährt Margot Käßmann nicht mit. Und wenn nur mit Pelz.

Zum Autor: Valentin Hacken, Jahrgang 1991, studiert in Freiburg Philosophie und Neue Deutsche Literatur. Der Geschäftsführer der »WaldorfSV – Bundesschülerrat« ist ehemaliger Schüler der Offenburger Waldorfschule.