Keine Angst vor Technik-Unterricht

Wilfried Sommer

Dem Kind eröffnet sich ein technischer Kosmos: Die Baggerschaufel nimmt Erde und große Steine auf. Präzise bewegt sich der Bagger zu einem Lastwagen. Die Schaufel schwenkt exakt über dessen Ladefläche, öffnet sich und die Ladung schlägt laut auf – Baggerführer muss ein herrlicher Beruf sein!

Das Kind kann in dieser Situation erleben, wie exakt abgestimmt seine technische Lebenswelt funktioniert. Die Abläufe greifen präzise ineinander. Sie sind geronnene Intelligenz, welche die Naturkräfte beherrscht und steuert. Das macht Eindruck – und zwar nicht nur bei den Kleinen.

Ähnliches zeigt sich, wenn man mit dem Finger über einen Touchscreen fährt und dessen Ansicht genau so weiterläuft, wie es der eigenen Fingerbewegung entspricht.

In der Sprache der Schülerinnen und Schüler ist das einfach »rattenscharf«. Intelligenter Erfindergeist, Perfektionsstreben und professionelle Umsetzung sind es, die uns an technischen Innovationen begeistern. Nach einiger Zeit weiß man, was das Gerät kann, aber nur selten, wie es technisch funktioniert. Man akzeptiert es als ein Ding, mit dem man umgeht, das man aber nicht durchschaut. Insofern stellt das Gerät eine Art modernen Mythos dar.

Pädagogische Aufgaben

Technische Geräte verketten und steuern natürliche Abläufe. Sie ersetzen menschliche Handarbeit samt der Werkzeuge genauso, wie die elektronische Datenverarbeitung viele Routineabläufe auf der Verwaltungsebene automatisiert. Indem der Mensch Technik entwickelt, veranlasst er die Natur, so zu erscheinen, wie er es diktiert. Er belauscht die Natur, wenn er forscht; er beherrscht sie, wenn er Technik erfindet.

Der Unterschied zwischen Erforschen und Erfinden, zwischen Belauschen und Beherrschen, prägt schon viele Jahrzehnte die Diskussion, wenn es um die Rolle des Technikunterrichtes in der Schule geht. Bereits der einflussreiche Pädagoge Martin Wagenschein hob hervor, dass die Arbeitsplätze eines Forschers und eines Erfinders (Entwicklers) äußerlich oft nicht zu unterscheiden seien, dass aber die Haltungen, mit welcher die beiden zu Werke gehen, divergierten.

Ähnlich ist es im Unterricht: In Physik wird der verständige Dialog mit der Natur gesucht. Es gilt zu ergründen, wie eine Erscheinung die nächste bedingt. Das Denken der Schülerinnen und Schüler muss sich in aller Bescheidenheit dem anbequemen, was die Natur tut. In dieser lauschenden Geste schließen sich ihre Gesetze auf. Durch sie verständigen sich die Schüler mit der Welt und können sie, um die Wortwahl Wagenscheins aufzugreifen, als eine geordnet »geschaffene« erleben. Aus der Interessens­bewegung des Unterrichts bildet sich Einsicht.

In der Technik geht es nicht um Geschaffenes, sondern um Gemachtes. Man stellt sich mit seinem physikalischen Wissen der Natur gegenüber und lässt sie tun, was man weiß. Dabei prägt man ihr seine eigenen Wünsche und Ziele auf. Es gilt, schlau und geschickt vorzugehen.

Aus der Gegenüberstellung ergeben sich Aufgaben des Technik- oder Technologieunterrichtes in der Schule wie von selbst:

1. Die Schülerinnen und Schüler müssen in ihrer Lebenswelt Geschaffenes und Gemachtes unterscheiden können. Das Material eines Nylonfadens ist gemacht, das eines Baumwollfadens geschaffen. Nur wenn ihnen das bewusst ist, bauen sie ein adäquates Weltverhältnis auf.

2. Aus technischen Geräten muss das Natürliche wieder »freigelegt« werden, so dass den Schülern die spezifische Erfindungsleistung bewusst wird.

3. Indem die Schüler grundlegende Erfindungen durchschauen, bleibt ihr Verhältnis zur Technik kein mythisches mehr, es wird entzaubert.

4. Gleichwohl erfahren sie, wie der Verstand intelligent zu Werke gehen kann. Sie beginnen zu durchschauen, was sie als kleines Kind mehr atmosphärisch faszinierte.

Positionen der Waldorfpädagogik

Waldorfpädagogik möchte durch die Inhalte des Unterrichtes die Entwicklungssituation der Schülerinnen und Schüler in adäquater Weise aufgreifen. Der Verständigungsprozess mit der Welt, den der Unterricht anregt, soll für die Schüler zugleich ein Verständigungsprozess mit sich selbst sein. Mit der Pubertät, insbesondere in der 8. und 9. Klasse, erleben Lehrerinnen und Lehrer, wie stark die Jugendlichen ihre eigene Meinung artikulieren, wie genau sie Position beziehen wollen zu der Welt, in der sie leben. Auch wird der Verstand gerne gebraucht, um bei minimalem Einsatz maximale Wirkung zu erzielen.

Durchschauen sie in dieser Zeit, wie man eine Pumpe bauen muss, damit der Luftdruck das Wasser bis zu zehn Meter nach oben drückt, so haben sie nicht nur eine technische Einsicht. Vielmehr formen sie ihre sonst oft spontan auftretende Urteilskraft in Richtung einer intelligenten Anwendung. Sie bemerken damit, wie der Verstand das eigene Innenleben gestaltet. Das stellt einen entwicklungsgerechten Bildungswert dar. Eine Position der Waldorfpädagogik ist es, gerade auf dem Höhepunkt der Pubertät durch die Auseinandersetzung mit Technik der Urteilskraft eine Entwicklungsfläche zu bieten – und zwar von der »Urteils­eruption« zur gelenkten Urteilsbildung.

In der 9. Klasse steigert sich diese Kraft und die großen technischen Themen modernen Lebens stehen im Fokus: Kommunikation und Mobilität. Die Physikepoche der 9. Klasse ist weniger ein forschender Physik- denn ein erfindender Technikunterricht. Wie können über eine Telefonleitung mehrere Telefongespräche übertragen werden, wie geschieht die serielle, digitale Datenübertragung beim Fax, wie funktioniert ein Strahltriebwerk eines Fliegers? – Die Schülerinnen und Schüler kommen mit ihrer Urteilskraft in der intelligent konzipierten Mitte einer mobilen Kommunikationsgesellschaft an.

Neben dem Technik-Schwerpunkt der 8. und 9. Klasse werden in den naturwissenschaftlichen Unterrichten, im Technologie-Unterricht und im handwerklichen Unterricht weitere technische Themen behandelt. Leitendes Ziel ist stets eine Entmystifizierung der technischen Lebenswelt: Indem die Schülerinnen und Schüler grundlegende Zivilisationstechniken dem Prinzip nach durchschauen, erkennen sie, wie ihre Umgebung erfindungsreich konstruiert ist. Sie haben etwas von dem Erkenntnisoptimismus der Entwicklungsingenieure erlebt.

Aufgaben für die Lehrerbildung

Aus den Positionen der Waldorfpädagogik wird deutlich, dass in der Lehrerbildung thematisiert werden muss, welche zentralen technischen Innovationen in welchen Graden der Vereinfachung wie mit Schülerinnen und Schülern behandelt werden können und sollen. Das sind klassische didaktische Fragen. – Verschiedene Projekte innerhalb der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen behandeln derzeit diese Fragen, insbesondere auch mit Blick auf die Computertechnologie.

Der Erkenntnisoptimismus, mit dem eine technische Erfindung vorangetrieben wird, ist ein zentraler, auch pädagogischer Aspekt des Technikunterrichtes, zu dem weitere hinzutreten: Kann ich mit einem technischen Gerät, dessen Gebrauch und Funktionsweise ich durchschaue, auch sinnvoll umgehen? Bin ich ihm aus der Fülle meines Menschseins gewachsen? Wie hängen Technik und Verantwortung zusammen? Was können wir im 21. Jahrhundert von dem Einzug der Technik in das gesellschaftliche und politische Leben des 20. Jahrhunderts lernen? Wo überfordern uns die Segnungen der Technik? – Auch das muss pädagogisch und vor allem im Unterricht aufgegriffen werden. Hier bieten sich fächerübergreifende Ansätze besonders an.

Um diesen Prozess mit Selbsterkenntnis führen zu können, müssen sich zukünftige Lehrerinnen und Lehrer ihrer eigenen Positionen bewusst werden: Tendiere ich dazu, die Zweckorientierung im Umgang mit der Natur beim Erfinden vor allem als einen Akt der Entfremdung zu sehen, den ich negativ bewerte? Bin ich so von der brillanten Intelligenz mancher Erfindungen begeistert, dass ich den gesellschaftlichen Kontext einer Erfindung vergesse? Empfinde ich die einfachen Maschinen, wie sie traditionell vom Handwerk verwendet werden, pädagogisch als »das Zentrale und Richtige«? Wenn ja, ziehe ich eine idealisierende Romantik der virtualisierenden Technik des modernen Lebens vor? Wie stehe ich als ein Mensch, der selbstverständlich nicht wertfrei leben kann, zu dem erst einmal wertfreien Vorgehen der Physik und der technischen Entwicklungen? – Professionelles Vorgehen im Unterricht muss sich der eigenen, vielleicht zunächst nicht voll wachen Positionen bewusst sein!

Die Waldorfpädagogik setzt ihren Unterricht so an, dass in der Begegnung mit dem Unterrichtsgegenstand dessen besonderes Dasein, seine Atmosphäre und seine Originalität erlebnisstark auftreten können. Insofern steht sie der Wagenscheinschen Idee, im technischen Apparat das Natürliche auszugraben, sehr nahe. Das muss in der Lehrerbildung an zahlreichen Unterrichtsbeispielen geübt werden. Die Erfahrung zeigt, dass solche »Ausgrabungsarbeiten« eine Kraftquelle des Unterrichts sein können. Die Unterrichtsstimmung ist dann eine kreative, ohne dass die Kreativität ins Spekulative entgleitet. Auch diese Doppelgeste der Technik müssen Lehrerinnen und Lehrer durchschauen.

Signatur des modernen Lebens

Technik spaltet. Sie wird als faszinierend oder befremdend empfunden, oft auch in pragmatischer Gleichgültigkeit hingenommen. Sie ist eine Signatur modernen Lebens. Richtig und falsch sind – gerade auch im pädagogischen Alltag – Kategorien, die dem Spannungsfeld nicht gerecht werden, in dem Technik auftritt. Von daher fordern die hier angesprochenen Signaturen eines Technikunterrichtes mehr: eine Schulzeit, die in der Fülle der Fächer Schülerinnen und Schüler so stärkt, dass sie die Spannungsfelder des Lebens mit einer kraftvollen Persönlichkeit bejahen und sich ihnen aussetzen wollen.

Zum Autor: Prof. Dr. Wilfried Sommer, Physiker, Oberstufenlehrer an der FWS Kassel und Dozent am Lehrerseminar für Waldorfpädagogik Kassel. Betreuung und Koordination zahlreicher physikalischer Forschungsprojekte der Pädagogischen Forschungsstelle Kassel. Professur für Schulpädagogik mit Schwerpunkt phänomenologische Unterrichtsmethoden an der Alanus Hochschule.

Literatur: Martin Wagenschein, Die pädagogische Dimension der Physik, Aachen 1995