Kinder brauchen Vorbilder

Von Werner Kuhfuss, Februar 2016

Werner Kuhfuss plädiert dafür, Urbilder im Kindergarten zu entwickeln, ein richtiges Lebenstheater zu schaffen mit Mutter und Vater, Großmutter und Großvater, Bauer, Schmied und Künstler. Dabei geht es dem Autor nicht um die Vertiefung von Rollenklischees, sondern vor allem um die Stärkung des männlichen Elements in der Erziehung.

Wir müssen uns frei machen von der Vorstellung, es gäbe eine feste pädagogische Form für Kinder. Es gibt sie so wenig, wie es eine feste Form für Biografien oder für das Familienleben gibt. Trotz der Offenheit des Lebens gibt es Grundelemente, so wie es Farben und Formen gibt, aus denen die Malerei entsteht.

Eines der wichtigsten Grundelemente, das Kinder benötigen, ist die Polarität von männlich und weiblich. Leider ist es so, dass das Berufsbild des weiblichen Erziehers im Kindergarten so ausgeprägt und damit so einseitig ist, dass Männer diesen Beruf – ich bitte um Entschuldigung! – meist nur dann wählen, wenn sie ihre weichen und weiblichen Eigenschaften entwickeln wollen, also gerade nicht die, welche die Kinder als Ausgleich zu der Weiblichkeit der Kindergärtnerinnen brauchen.

Auch ich selbst als jemand, der mit Kindergartenkindern arbeitet, muss mich fragen: Tue ich das im Grunde doch nur, um der Härte des Lebens in anderen Berufen zu entgehen? Am liebsten hätte ich einen gestandenen Handwerker an meiner Seite, einen Schreiner, Zimmermann oder Schmied, ein echtes Werkstattleben wie in der alten Zeit. Da die Kinder ja nur äußerlich in der gegenwärtigen Zivilisation leben, in Wirklichkeit aber vergangene Kulturepochen durch­spielen, wäre nach Formen zu suchen, die handwerkliche Prozesse und Produkte enthalten, an denen die Kinder ihr Spiel real entwickeln können.

Zum Glück haben wir unseren Freund Dick Verbeeck aus Holland, der einige Male im Jahr eine Woche lang kommt, um mit richtiger feuriger Esse, mit Hämmern, Zangen und Amboss aus Eisen und Kupfer Klangspiele und Gongs im Beisein der Kinder zu schmieden. Der Bildhauer Max Meuter war bis zu seinem Tode mehrmals bei uns, um eine Marmorskulptur zu bearbeiten, wie auch der Inversionsmathematiker Robert Byrnes, der bewegliche Modelle aus Pappe herstellte, welche die älteren Kinder mit mir benutzen.

Wir müssen von Lebens- und Berufsbildern als Vorbild und Vor-Ahmung für die Nachahmung des Spieles ausgehen. Fehlt dem Spiel die Arbeit als reales Vorbild, so bleibt es in sich selbst stecken und versandet in bloßer Spielerei, die dem späteren Leben keine Kraft gibt. Erlebt das Kind nur weibliche Fürsorge und pädagogisches Bemühen, so gut und herzlich es auch sein mag, dann ahmt es dieses nach und es wird ihm später im Leben die männliche Art des Widerstandes fehlen, es wird Nischen suchen, um den Schwierigkeiten des heutigen Lebens, und damit auch jenen seiner biografischen Entwicklung zu entgehen.

Das Kämpfen muss gelernt sein

Was also brauchen die Kinder von mir, einem Mann, einem alten Mann, der kein gestandener Handwerker ist, sondern eher einer, der die soziale Kunst sucht, einer, der viele handgreifliche Sachen kann und ständig neue erfindet? Sicher ist das Männliche eine Sache des Willens, des Handfesten, des Energischen, des mutigen Vorangehens, des deutlichen Ja oder Nein, klar und bestimmt, notfalls ein bisschen derb, aber mit Humor. Die Buben lieben das, die Mädchen auch.

Der Mann kann einen Nagel einschlagen, er kann mit ordentlichen schwedischen Messern Stöcke schnitzen, auch mit den Kindern in der Schnitzwerkstatt, die sich so immer wieder ergibt, draußen und drinnen. Er zeigt, wie man mit Stöcken kämpft, nach Regeln und fair, er greift zu, kann mit den Kindern die Kräfte messen, mit ihnen ringen und balgen. Das aber muss gelernt sein und ist eine Kunst des Ausgleichs, wo nicht der Stärkere siegt, sondern der, der beweglich wird in der schönen Doppelbewegung, die aus dem Lebensleib kommt.

So lernen die Kinder, ihren Leib zu ergreifen, weil er wahrnehmend und mit Würde von außen ergriffen wird, was ja Flüssigkeit, Musikalität heißt im Sozialen. Hier ist das Männliche als Intelligenz im Tun präsent. Es tauchen die Künste auf, die Keime der Wissenschaften, alles aus dem Spiel, denn es ist die Quelle aller Kultur. Sie braucht die sinnlich-sittliche Anregung von außen im Vorbild, dem männlichen, dem weiblichen.

So spielt sich vor meinen Augen die Wiederentdeckung des Hebelgesetzes ab, als Gian prüfend seine Schaufel unter dem dicken Stamm ansetzt, und siehe da, er vermag ihn auf die Seite zu wälzen! Der Blick auf mich fragt: Hast du es gesehen? Und verstehst du, was das für mich bedeutet?

Das Verständnis des Erwachsenen in einer solchen Situation ist wie ein Segen, der ein Leben lang im Kind nachwirkt, ohne ein Wort. Zweifellos: Das Kind braucht den mütterlichen Menschen in diesem Alter, denn eigentlich hat ihn seine Mutter verlassen und Fremden übergeben. Die mütterliche, die weibliche Hülle, die braucht es. Aber auch der Kerl muss sein, der Spaß versteht und zu Schabernack aufgelegt ist, ein wenig Quertreiber zu der weiblichen Fürsorge, sonst werden die Kinder zu brav. Er hat Kieselsteine in der Tasche, von denen man sich die schönsten auswählen kann, und immer ein Messer. Und kleine weiße Döschen, in denen wahlweise Salzkristalle, bittere Enzianwurzel, allerlei Kräuter, aber, wenn man Glück hat, auch braune Kandiszuckerstücke enthalten sind.

Er hat eine Werkstatt, vielleicht nur eine Ecke mit Sachen irgendwo im Raum, vielleicht eine richtig große, wie wir seit einigen Jahren, wo man tausend Sachen findet: zu Locken geringelte Holzspäne, Kaffeesatz, Lehm, Gips, Draht, Glasscherben, Bleche, Bänder, Schnüre, Seile und Papier. Ja und Kronkorken gibt es, von Bierflaschen, die kann man mit einem Bunsenbrenner glühen und zu klingenden Münzen schmieden. Jeder Mann, jede Frau kann, wenn sie mit Kindern zusammen sind, ein Urbild entwickeln: die Mutter, der Vater, die Künstlerin, die Gärtnerin, die Bäckerin, aber auch der Knecht, der Bauer, ja, warum keine Großmutter und kein Großvater im Kindergarten, künstlerisch und mit Humor geübt, als Teil eines richtigen Lebenstheaters?

»Erzieher« ist kein Urbild

Dann würde der Erzieher verschwinden und sich verwandeln in das Bild, das in seiner Seele als solches angelegt ist. Verzeihung, aber Erzieher ist kein Urbild für Kinder, das wissen alle guten Erzieher!

Tätig sein aus der Tiefe der eigenen Seele und die Subjektivität hineinlegen, die ein Künstler braucht, um schöpferisch zu sein. Und was sich dabei auslebt, da leben sich die Kinder ein. Die werden dann unversehens Freunde, Männerfreunde und Frauenfreunde, wenn man es richtig anlegt und man die Verbindung aufrechterhalten kann, ein Leben lang. An solcher Freundschaft, wenn aus Kindern Jugendliche und Erwachsene geworden sind, erkennt man, dass man sie nicht pädagogisch betrogen hat.

Beobachtungsbögen mögen die verfassen, die selber beobachtet werden wollen. Denn nicht wir haben die Weisheit, sondern die eben noch vom Himmel belehrten Kinderseelen mit ihren Engeln, die ihnen noch ganz nah sind im Spiel und im Schlaf. Doch wir sind es, welche die Weisheit erkennen und durch unser handwerkliches Tun bestätigen sollen – mit leichtem Schritt auf dem schweren Pflasterstein der physischen Wirklichkeit: mit den Kindern und für sie den Weg bereitend, über uns die Sterne, die Sonne und den Mond.

Hinweis: Eine eindrucksvolle Darstellung des Männlichen und Weiblichen als Urbilder findet sich in Rudolf Steiners Vortrag über die Hybernischen Mysterien, GA 232.

Zum Autor: Werner Kuhfuss entwickelt mit den älteren Kindern seit 2000 das Projekt »Sinnbildung im Kindesalter« im Kindergarten »Bienenkorb« in Waldkirch-Kollnau (Elztal), www.kalliasschule.de

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