Kinder wollen in ihrer Eigenart wahrgenommen werden. Einblick in die »Werkstatt« einer ersten Klasse

Minna Marx, Redaktion

Erziehungskunst | Frau Marx, wie erleben Sie die heutigen Erstklässler, wenn Sie in die Schule kommen? Was zeichnet diese aus?

Minna Marx | Neben den üblichen Voraussetzungen der Schulreife hat das Individuelle der Kinder mächtig an Bedeutung gewonnen. Dabei ist die Hellfühligkeit besonders auffällig. Die Kinder sind in gewisser Weise offener und auch grenzenloser. Alles, was um sie herum passiert, nehmen sie sofort in ihr Inneres auf und reagieren entsprechend darauf. Von daher müssen wir bei der Schulreife besonders auf die soziale und emotionale Reife achten. Ist ein Kind in der Lage, eine große Klasse überhaupt zu ertragen? Kann es die Anweisungen des Lehrers hören und aufnehmen?

EZ | Woran bemerken Sie diese Hellfühligkeit der Kinder?

MM | Das beobachte ich besonders im sozialen Umgang. Die Grenzen im Zwischenmenschlichen scheinen mir durchlässiger zu sein. Oft erlebe ich, dass die Kinder meine stillen Überlegungen in sich aufnehmen und entsprechend reagieren, lange bevor ich diese überhaupt ausgesprochen habe. Das Gleiche erlebe ich in Bezug auf meine Seelenstimmungen. Ich fühle mich vor den heutigen Kindern wie ein offenes Buch. Stellen Sie sich solche Kinder in einem Klassenverband vor: Von allen Seiten strömt es auf sie ein, von allen Seiten müssen sie etwas aufnehmen. Das kann unter Umständen zu Problemen führen.

Solche Kinder prüfen geradezu die Persönlichkeit und Autorität des Lehrers. Sie nehmen die alte Rollenautorität nicht mehr an, sie sperren sich, wenn die Haltung des Lehrers ihnen nicht entspricht. Das kann auch im Stillen geschehen und muss sich nicht in lautem Stören äußern. Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, diesen hellfühligen Kindern ihr Zuviel an Wahrnehmung auszutreiben, damit sie großklassentauglich werden. Man muss ihnen einen Umgang damit beibringen. Das heißt, man muss sie verstehen, und diese Phänomene in sich nachvollziehen können, um die richtige, hilfreiche pädagogische Haltung zu finden. Man kann diese Dünnhäutigkeit nicht verändern. Diese angeborene Fähigkeit zu tiefer Empathie ist ja auch etwas sehr Schönes. Mit dieser Empfindsamkeit umzugehen, heißt, Prozesse entschleunigen, heißt, die große Wahrnehmungsfähigkeit immer zielgerichteter und konzentrierter an eine Sache binden zu lernen. Dazu gehört auch, Grenzen zu setzen, Schutzhüllen zu bilden, gut Maß zu halten mit allem, was man den Kindern in der Anfangszeit zumutet.

EZ | Wie müssen die Lehrer sich ändern, damit die Kinder sie annehmen?

MM | Ich denke, ein Lehrer braucht heute eine gute Methode, um sich in das Kind hineinversetzen zu können, weil uns Erwachsenen dieses hellfühlende Verhältnis fremd ist. Wir brauchen Übung im immer präziseren Wahrnehmen. Dazu gehört eine ehrliche und schonungslose Selbstbeobachtung. Will man heute wirklich erziehen, kommt man an echter Selbsterziehung nicht mehr vorbei. Wir müssen immer wieder neu Interesse am Kind entwickeln. Ein Lehrer braucht heute mehr denn je gute Kraftquellen, Offenheit fürs Unbekannte, fürs Neue. Und ein freudiges Verhältnis zur Welt! Jeden Morgen aufs Neue.

EZ | Gibt es neben diesen individuellen Faktoren bei den Kindern noch andere Einflüsse, die die Lehrer besonders herausfordern?

MM | Ja, es gibt Erziehungsschäden, die aus unterlassener Hilfestellung entstehen. Viele Eltern haben Angst davor, Grenzen zu setzen. Sie muten den Kindern keinen Verzicht mehr zu. Es gibt Kinder, die sich nicht zurückhalten können. Alles purzelt aus ihnen heraus. Die Kinder haben keine Wahrnehmung davon, wann der Lehrer oder ein anderes Kind spricht. Oft auch nicht davon, ob sie selbst sprechen oder nicht. Das Stillund Ruhigsein, das üben wir zum Beispiel in kleinen Gruppen, die ich aus dem Unterricht herausnehme.

Ein Beispiel: Wenn ich einmal klatsche, dann verwandelt sich der Raum in eine weite stille Wüste, durch die die Könige wandern. Jeder ist ein König des Schweigens. Wenn ich zweimal klatsche, kommt ein kleiner Sandsturm auf. Jedes Sandkorn ist ein Wörtchen. Und jedes Körnchen wispert eine Frage und will die Könige vom Weg abbringen. Der König darf kichern, denn ein König lacht gern, aber er kriegt sich auch wieder ein, und er darf nicht sprechen. Ich versuche sie: »Wenn du mir jetzt sagst, welches Eis du haben willst, bringe ich es dir sofort.« Der Wüstenwind raunt leise: »Bist du heute wieder mit dem U-Boot zur Schule gekommen?« oder »Du hast bestimmt noch nie einen Hasen gesehen, oder?« Versuchende Fragen, aber für den König kommt es darauf an, zu schweigen. Das Kind ringt mit sich, muss darauf verzichten zu antworten. Dann klatsche ich dreimal und wir gehen leise und würdig in das Klassenzimmer zurück und treten in ein fremdes Königreich ein. Dort gibt es viel Hofgesinde, das gerne plappert. Ob einer wohl auch den heutigen Hofnarren entdeckt? Wir aber wollen auch diese schwerste Versuchung der Könige bestehen und still bleiben. Und ich schaue, wo die Krone am hellsten leuchtet. Dann gebe ich ein Zeichen der Entzauberung und sie dürfen wieder reden. Das habe ich mit der ganzen Klasse gemacht und es gab von 34 Kindern nur eines, das es nicht ganz schaffte, König zu bleiben. Die Kinder übten von Herzen gern und waren oft verwundert darüber, wie anders man alles sah und hörte, wenn man so still und aufmerksam war. Diese Fähigkeit können Kinder lernen. Es geht um das Innehalten, nicht um das Schweigen, sondern darum, dass die Kinder für kurze Zeit zurückhalten, was heraus will. Es war schön zu sehen, wie viel Willenskraft und Entschlossenheit die Kinder für dieses Üben aufbrachten, und wie sie die belebte Ruhe, die sich durch die Übung einstellte, genossen. Diese Übung ist nur ein Beispiel für die vielen kleinen »Zwischentakte«, die ein Klassenhelfer in die laufende Grundmelodie des Unterrichts einfügen kann. Mit dem Klassenlehrer zusammen werden individuelle Beziehungsund Erziehungsräume ermöglicht, in denen einzelne Schritte gegangen werden können. Natürlich geht das auch oft während des Unterrichts, also ohne dass wir das Klassenzimmer verlassen.

EZ | Was zeichnet das Kind vor dem Schuleintritt aus, was danach? Wie gestaltet sich der Übergang?

MM | Es ist ein Ruck, der durch die Kinder geht. Sie merken: Ich will das, ich will lernen. Es ist nicht mehr das gemeinsame »Wir wollen« wie im Kindergarten. Wenn die Lehrerin sagt, ich freue mich, dass du den Morgenspruch so schön sagst, dann antwortet das Kind still in sich: Ich freue mich, dass du dich freust. Kinder lassen sich so in der Regel gerne zum Lernen auffordern. Sie wollen’s gut und schön machen, dem Lehrer zu liebe. Dass sie das nicht immer ungehindert auch können, ist klar. Dafür gibt es viele Gründe. Auf die Frage, wie sich der Übergang gestaltet, gibt es fast so viele Antworten wie es Kinder gibt. Auf dem Weg ins Schulleben tauchen nicht selten Ängste, Schwierigkeiten, Nöte auf, mitunter prägende Erfahrungen, an denen bei guter Begleitung auch viel gelernt werden kann.

Wenn es gut geht, ist dieser Prozess vergleichbar mit dem Einstimmen eines großen Orchesters, das Lust macht auf das, was kommt!