Kinderschutz aus Sicht der Schulärztin

Ulrike Lorenz

Sexueller Missbrauch betrifft vor allem Kinder unter 14 Jahren und ist so häufig, dass rein statistisch in jeder Schulklasse ein Kind davon betroffen sein könnte. Da die Schulärzte gerade in dieser Zeit die Kinder intensiv wahrnehmen, müssen sie – vor allem bei seelischen Störungen – den Missbrauch in der Differentialdiagnose als mögliche Ursache einbeziehen.

Die Symptome sind selten eindeutig und können auch ganz andere Gründe haben. Es ist nicht immer einfach, Missbrauch zu erkennen oder gar nachzuweisen. Ein zu Unrecht geäußerter Verdacht kann für alle Beteiligten gravierende Folgen haben.

Woran man Missbrauch erkennt

Die körperliche Untersuchung, die zum Beispiel im Rahmen der Vorsorge vorgenommen wird, ergibt – anders als bei körperlicher Gewalt – selten eindeutige Hinweise oder gar Beweise. Als spezifisch gelten Verletzungen im Genitalbereich, wenn sie nicht durch einen Unfall entstanden sind.

Häufig sind psychosomatische Beschwerden wie Kopf- und Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, aber auch Konzentrationsstörungen.

All dies sind Symptome, die jedoch häufig genug andere Ursachen haben. Typisch sind dagegen plötzliche Verhaltensänderungen, wie der Rückzug eines Kindes aus der sozialen Gemeinschaft, ein plötzlicher, sonst nicht nachvollziehbarer Abfall der Schulleistung, oder ein neu aufgetretenes, sonst nicht erklärbares überängstliches Verhalten.

Fast immer sichere Hinweise sind Äußerungen eines Kindes. Im Schnitt muss aber ein Kind sich achtmal äußern, bevor es verstanden oder ernst genommen wird. Deshalb müssen wir als Vertrauenspersonen der Kinder oder auch der Eltern einen Raum schaffen, in dem solche Hinweise geäußert werden können. Es gilt, ein Vertrauen aufzubauen, dass zum Beispiel eine Mutter mutig genug ist, sich vorzustellen oder den Gedanken zuzulassen, dass ihr Kind Opfer sein könnte, in der Hoffnung, dass der Arzt ihr und dem Kind helfen kann.

Nicht immer ist der Arzt der erste Gesprächspartner für betroffene Schüler. Oft sind es die Klassenlehrer, andere vertraute Lehrer oder auch Mitschüler, die dann aber wiederum ihre Eltern oder Lehrer ins Vertrauen ziehen. In dieser Situation suchen die Kollegen häufig Rat, um ganz konkret zu erfahren, wie man mit dem Kind spricht, was man fragen darf, ohne suggestiv zu sein oder verletzend.

Die Botschaften des Kindes sind oft verschlüsselt. Zum Beispiel sagt ein Kind »Bei euch ist es schön!«, die eigentliche Botschaft drückt aber eine tiefe Traurigkeit aus, die uns hellhörig werden lässt. Oder ein Kind spielt eine Szene nach, die es mit einem Jugendlichen erlebt hat, um das Geschehen zu verarbeiten. Die Eltern konnten in diesem Fall rasch klären, wo und durch wen der Übergriff stattgefunden hatte.

Wiederholt malen Kinder auffällige Bilder in Anwesenheit eines Lehrers oder Therapeuten, dem sie sie auch zeigen – ein Hinweis darauf, dass es ihnen wichtig ist, dass Erwachsene mit ihnen darüber ins Gespräch kommen. Einmal erhielt ein Lehrer einen kleinen Zettel mit einem pädophilen Text, den er unbedingt lesen sollte.

Die größte Hilfe ist eine enge Zusammenarbeit

Die Erwartungen an den Arzt sind hoch. Er steht zwischen Schweigepflicht und der Aufgabe, unter Umständen rasch Hilfe zu leisten. Doch wenn die Schwelle des Schweigens erst einmal überwunden ist, ist man auf dem manchmal langen Weg zu einer Lösung.

Auch wenn die Schulärzte als Kinderschutzbeauftragte inzwischen auf Missbrauchsfälle vorbereitet sind, erfasst sie jedes Mal tiefes Entsetzen und großes Mitleid. Aber es gilt, Ruhe zu bewahren. Denn so schlimm die Situation ist, sie besteht meist schon längere Zeit und das Kind hat sich in der Regel zunächst damit arrangiert. Die Aufregung ist meist bei den Erwachsenen groß, die jetzt Hilfe und Rat im Umgang mit der Situation brauchen, damit sie für die betroffenen Kinder nicht noch schlimmer wird und es nicht zu einer Retraumatisierung kommt. Hier ist die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, wie Beratungsstellen, dem Jugendamt und anderen sozialen Diensten, die man kennen sollte, nötig.

An unserer Schule arbeiten wir mit dem Mädchennotruf, einer Beratungsstelle vor Ort, zusammen. Die Mitarbeiterinnen kommen bei unklaren Situationen auch zu uns in die Schule zu einem »runden Tisch«. Sie kennen ihrerseits geeignete Therapeuten und die zuständigen Menschen in den Ämtern. Durch die enge Zusammenarbeit fällt es den Eltern nach unserer Erfahrung leichter, die Hilfe dieser Stellen anzunehmen. Da ich Ansprechpartner für die Lehrer bin, kommen bei mir viele, auch kleinere Informationen und Hinweise zusammen, die für sich allein oftmals nicht Grund genug sind, gleich eine Diagnose oder einen Verdacht zu äußern. Die einzelnen »Puzzleteile« können sich dann aber zu einem klaren Bild zusammenfügen.

Prävention – bis hin zur Gestaltung des Schulgeländes

Als Kinderschutzbeauftragte versuchen wir an der Schule eine sinnvolle Prävention zu entwickeln, die unserer Pädagogik entspricht. Wir arbeiten an der Frage, inwieweit wirkt Waldorfpädagogik selbst schon präventiv, wie viel gezielte Prävention braucht es außerdem? Bisher konnten wir durch Lehrerfortbildung und Elternabende an unserer Schule erreichen, dass die Erwachsenen ein stärkeres Bewusstsein für die Gefährdung der Kinder entwickeln. In der Oberstufe halten wir eine Unterrichtseinheit zur Beziehungskunde, in der es allgemein um menschliche Beziehungen geht, in der auch der Missbrauch thematisiert wird.

Auch bei der Gestaltung des Schulgeländes haben wir den Schutz der Schüler inzwischen mehr im Bewusstsein. So haben wir die Spielhäuser auf dem Gelände mit Fenstern versehen. Leider kommt es immer öfter vor, dass ältere Schüler versuchen, Szenen, die sie in den Medien gesehen haben, mit jüngeren Schülern nachzumachen. Es gilt einerseits, Räume zu schaffen, in denen sich Schüler begegnen können, anderseits ist aber auch pädagogische Präsenz zu gewährleisten.

Die Einführung einer Selbstverpflichtung sowie die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses für alle Mitarbeiter als Teil des Arbeitsvertrages sollen helfen, die Verantwortlichkeit für den Kinderschutz zu stärken.

Trotz aller Prävention werden wir nie ganz verhindern können, dass Kinder in eine solche Situation geraten. Für uns als Erwachsene – Eltern, Erzieher, Lehrer und Ärzte – ist es entscheidend, dass wir neben unserem Wissen über Missbrauch auch den Mut zum Hinsehen haben. Dank unserer Aufgabe nah am Kind und Jugendlichen haben wir die Chance, aber auch den Auftrag, betroffenen Kindern zu helfen.

Zur Autorin: Dr. Ulrike Lorenz ist Schulärztin an der Freien Waldorfschule Mannheim