In Bewegung

Zuhause und in der Schule fängt´s an. Eine rassismuskritische Waldorfkultur

Heidi Käfer
Heidi Käfer
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Im Geschichtsunterricht der Oberstufe nehmen NS-Regime und Zweiter Weltkrieg einen großen Platz ein, nicht zuletzt, weil damit der zivilgesellschaftlichen Aufgabe einer «Erziehung zur Mündigkeit», wie sie Theodor W. Adorno bezeichnet, nachgegangen werden will. Mit der geschichtlichen Aufarbeitung des Holocausts und der Etablierung einer Gedenkkultur als Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen, hat sich fest im deutschen Bildungssystem verankert, ja stellt sogar ein kulturelles Spezifikum dar. Die Institution Schule hat die Funktion, Demokratie zu lehren, Heranwachsende politisch zu bilden und nimmt laut Bundeszentrale für Politische Bildung an, über genügend didaktische Mittel zu verfügen, um Entwicklungen in Richtung rechts entgegenzuwirken.

Na, dann können wir uns doch stolz und beruhigt auf die aufgeklärte Schulter klopfen und das Rechts-Kapitel zuklappen. Geschichte ist ja deshalb so wichtig, weil wir über das Zurückschauen aus Fehlern für die Zukunft lernen. Oder nicht?

Das R-Problem

In der öffentlichen Wahrnehmung ist immer noch die tiefgreifende Annahme verbreitet, Rassismus und Rechtsextremismus seien irgendwie das gleiche. Der Unterschied: Rassistische Strukturen sind auf individueller sowie institutioneller Ebene zu finden. Rahel El-Maawi und ihre Co-Autor:innen beschreiben Rassismus in ihrem Buch No to Racism: Grundlagen für eine rassismuskritische Schulkultur (2022) als «keine persönliche oder politische Einstellung, sondern ein institutionalisiertes System, das in soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen hinein wirkt und weiße Menschen und ihre Interessen konsequent bevorzugt.» Beim Rechtsextremismus dagegen geht es um die organisierte und politisierte Form von Rassismus, auf dessen Formen und Gefahren für die Waldorfbewegung in dieser Ausgabe klar und kritisch Bezug genommen wird.

Aus diesem Grund ist es für eine Beschäftigung mit Rechtsextremismus unabdingbar, sich gründlich mit dem Thema Rassismus auseinanderzusetzen und sich vor allem selbst immer wieder an der eigenen Nase zu packen. Eine Gleichsetzung der Begriffe verhindert nämlich einerseits, dass der Diskurs statt in der Mitte der Gesellschaft, vor allem am rechten Rand verortet wird. Andererseits fördert die Nicht-Thematisierung von Rassismus den Status-Quo diskriminierender Machtstrukturen.

Für diesen zähen (Nicht-)Umgang sehen Expert:innen vor allem zwei Gründe: Zum einen wird in der deutschen Erinnerungskultur der Holocaust und der Nationalsozialismus laut Julia Hartmann «als ein Ausnahmezustand und kurzweiliger Ausbruch aus der sonst ‹zivilisierten› deutschen Gesellschaft» dargestellt. Jemand kratzt sich an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Sekunde zu lang das Ohr und verändert damit die ganze Weltgeschichte – so zufällig und unerklärlich scheinen jene Geschehnisse. Der historisch-kontextuelle Zusammenhang zwischen Nationalsozialismus, Kolonialismus und der Erfindung von Rasse wird dabei ausgeblendet. In jener vermeintlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit spiegelt sich ein unaushaltbarer kollektiver, sich in Vermeidung ausdrückender Schmerz wider. Zum anderen sind jenseits des deutschen Kontexts weiße Menschen wenig geübt, mit dem eigenen Rassismus konfrontiert zu werden. Laut Alice Hasters fühlen sich weiße Menschen selten «so angegriffen, missverstanden und allein, wie dann, wenn man sie oder ihre Handlungen ‹rassistisch› nennt. Das Wort wirkt wie eine Gießkanne voller Scham, ausgekippt über die Benannten.»

Es handelt sich hier also um eine Schieflage, die kaum als adäquate Basis für einen offenen Umgang mit dem Begriff Rassismus dienen kann. Der Rassismusforscher Mark Terkessidis sagte passend dazu in einem Vortrag auf die Frage, ob Deutschland rassistisch sei oder nicht: «ob wir das schön finden oder nicht, ob das änderbar ist oder nicht, spielt im Grunde keine Rolle. Es ist besser für uns alle, wenn wir es akzeptieren. Denn erst dann können wir uns damit auseinandersetzen.»

Damit wären wir wieder bei der Verantwortung: Wenn wir auf individueller Ebene nicht lernen, Verantwortung zu übernehmen, uns also unser Denken, Fühlen und Handeln bewusst machen und mit dem Streben nach Integrität reflektieren, dann gelingt das auch nicht im Großen. Da kann die geschichtliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Schule, deren Bedeutung hier mitnichten kleingeredet werden sollte, noch so ausgedehnt und in die Tiefe gehen – Rassismus beginnt im Denken und Rassismus ist in Deutschland im Alltag, in Institutionen und systemisch verankert. Wir lernen ihn, indem wir Teil einer rassistischen Gesellschaft sind. Deutschland als Idee, als Staat, als Gesellschaft so wie wir es kennen, basiert neben demokratisch gelebten Idealen auch auf Ausbeutung.

Menschen, die nicht von Rassismus betroffen sind, haben stets die Wahl, sich mit Rassismus zu beschäftigen oder nicht, d. h. ihr eigenes Denken und Handeln kritisch zu hinterfragen und zu inter­venieren, wenn andere sich rassistisch äußern. Rassismusbetroffene dagegen, können es sich häufig nicht aussuchen, sich rassistischen gesellschaftlichen Strukturen und Handlungen anderer, mit denen sie täglich konfrontiert sind, zu entziehen. Um dieses starke Macht- bzw. Privilegien-Gefälle nachhaltig zu verändern, ist ein Wandel struktureller Art notwendig. Punktuelle Initiativen, Veranstaltungen und Lerneinheiten im Unterricht sind dafür nicht genug. Vielmehr muss an den Schulen eine vorurteilsbewusste, diversitätssensible Kultur etabliert und stets aktiv unter der Partizipation von allen Akteur:innen im Schulalltag gestaltet werden. Das bedeutet, alle Akteur:innen des Schulalltags, insbesondere Lehrkräfte und Eltern, müssen lernbereit sein, sich fortbilden und gemeinsam kooperieren.

Lasst uns an unserer Vorurteilssensibilität arbeiten!

In Deutschland gibt es unzählige Netzwerke, Initiativen, Vereine und Multiplikator:innen, die großartige und notwendige diversitätssensible Arbeit leisten und handlungspraktische Materialien herausbringen, die diesen Prozess hin zu einer solchen vorurteilsbewussten Schulkultur unterstützen. Ein Ansatz, der in den 1980er Jahren in den USA von Louise Derman-Sparks und Carol Brunson-Phillips für den Bereich der Kleinkindpädagogik entwickelt wurde und mittlerweile sehr häufig in der Antirassismusarbeit benutzt wird, ist der Anti-Bias-Ansatz (bias, zu deutsch Voreingenommenheit). Er ist aus der Kritik an Ansätzen entstanden, die häufig Stereotypen reproduzieren oder sogenannte Farbenblindheit suggerieren. Als intersektionaler Ansatz bezieht er verschiedene Formen der Diskriminierung mit ein, d. h. berücksichtigt auch Ausgrenzung in Bezug auf Gender, unterschiedliche Familienformen, sexuelle Lebensweise, soziale Zugehörigkeit, körperliche oder geistige Gesundheit. Er will Machtgefälle sichtbar machen, ins Gleichgewicht bringen und so Diskriminierungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene abbauen. Ein zentraler Ausgangspunkt der Anti-Bias-Arbeit ist die Annahme, dass jeder Mensch seit der frühen Kindheit erlernte Vorurteile in sich trägt, welche Wahrnehmung, Denken und Handeln beeinflussen. Im Zusammenhang mit Macht können Vorurteile zu Diskriminierungen führen und auf unterschiedlichen Ebenen wirken. Die Arbeit beabsichtigt einen bewussten Umgang mit Vorurteilen auf der Basis der Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Menschen in ihrer Vielheit und strebt damit eine Gesellschaft an, in der alle Menschen gleiche Chancen auf Anerkennung, Teilhabe und Entfaltung haben. Die Schulen als Institution, insbesondere die Waldorfschulen, in denen diese Wertvorstellungen fest verankert sind, stellen einen der einflussreichsten Rahmen dar, in denen eine vorurteilsbewusste Kultur erlernt und praktiziert werden muss.

Wie können wir rassismussensible Klassenzimmer schaffen?

Die eigene Klasse als Pädagog:in einfach so rassismuskritisch zu machen, ist nicht möglich, ohne die kritische Auseinandersetzung mit eigenen Vorurteilen und Erfahrungen. Das gilt auch für alle anderen Lebenbereiche. Diese Auseinandersetzung hilft im Schulalltag, bestimmte Situationen angemessen einschätzen und verändern zu können. Und wichtig dabei: Es dürfen Fehler passieren. Es geht um den humanistischen Umgang mit ihnen.

Wie bin ich geprägt?

Pädagog:innen und Eltern sollten ihre eigene Identität und Privilegien sowie den eigenen Einflussbereich reflektieren und sich fragen: In welche Machtverhältnisse bin ich involviert? Wie sehe ich andere Schüler:innen, Kolleg:innen, Eltern? Welche Erfahrungen prägen mich? Wenn wir die eigene Position benennen, können wir dazu beitragen, dass nicht nur Anderssein thematisiert und so nicht stets Weißsein als Norm reproduziert wird. Das ist ein bedeutender Schritt in Richtung Verantwortungsübernahme. Rassismusbetroffene Kinder und Jugendliche werden so als Menschen mit bestimmten Erfahrungen wahrgenommen statt als die Anderen.

Diskriminierende Tendenzen aufspüren und verändern

Es ist notwendig, die gängige Schulpraxis mit dem gesamten Kollegium auf ausschließende Praktiken zu überprüfen. Für das Aufspüren diskriminierender Tendenzen muss die gesamte Unterrichts-, Personal- und Schulentwicklung durchleuchtet werden. Dies erfordert ein klares Leitungshandeln, das zum Ziel hat, diskriminierende Praktiken aus der Schulkultur zu verabschieden. Erfolgreich ist dieser Prozess laut Anti-Bias-Netz vor allem, wenn so viele Handlungsfelder wie möglich berücksichtigt werden, so wie die Interaktion, Unterrichtsentwicklung, Raumgestaltung, Zusammenarbeit mit Eltern und Kolleg:innen etc.

Inklusive Raumgestaltung

Es sollten inklusive Räume gestaltet werden, und das nicht nur an Schulen. In inklusiven Räumen werden alle Kinder und Jugendliche repräsentiert und angesprochen. Dafür ist die Wahl der Materialien essenziell – einerseits durch den Verzicht auf Lehrmaterialien mit diskriminierenden Begriffen und Inhalten, andererseits durch Materialien, die Vielfältigkeit normalisieren, Rassismusbetroffene stärker repräsentieren oder auch Materialien, die von sonst unterrepräsentierten Autor:innen verfasst sind. Bei der Gestaltung eines solchen Raumes sollte man sich fragen: Wer oder was und welche Normen werden gerade damit repräsentiert? Dazu gehören darüber hinaus Interventionen als gängige Praxis, wenn jemand stereotypisiert oder diskriminiert wird.

Vorurteilsbewusste bzw. rassismuskritische Arbeit ist schmerzhaft, kann Momente des Unbehagens mit sich bringen und muss immer aktiv erneuert werden. Dennoch ist diese Arbeit dringend nötig und kennzeichnet den Weg hin zu einer authentischen Bildungsgerechtigkeit an Waldorfschulen – die Waldorfschule als wertvolles Umfeld und lebenslanger Lern-Inkubator für Machtkritik und Empathie.

Auf ein erfolgreiches Lernen!

Weiterführende Literatur:

Hans Gerd Jaschke (2012): «Die Rolle der Schule bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus». In: APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte. Bundeszentrale für Politische Bildung, Berlin.

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