Klassenfahrt einmal anders

Svenja Hoyer, Heiner Freitag, Moh Portuondo Alvarez

»Kann das gut gehen?«, fragten sich die Eltern, als der Klassenlehrer sie auf einem Elternabend über das geplante Projekt informierte. »Nein, nicht unbedingt«, war die Antwort. Bei Projekten dieser Art zählt nicht das perfekte Ergebnis, sondern es zählen die Lernerfahrungen, die die Schüler dabei machen. 

Hierdurch sollen sie ihre Selbstwirksamkeit erleben und sich davon überzeugen, dass sie schwierige Anforderungen aus eigener Kraft bewältigen können. Besonders wichtig ist dabei, dass die Schüler zunächst nicht wissen, wie sie eine Aufgabe lösen werden und durch eigene Anstrengung nach und nach eine erfolgversprechende Lösungsstrategie finden. Das stärkt ihre Motivation, Leistungsbereitschaft und Willenskraft, sich anspruchsvolle Ziele zu setzen, sich anzustrengen und mit Ausdauer an einer Aufgabe dranzubleiben.

Heutzutage räumen Eltern ihren Kindern im Alltag (zu) viele Steine aus dem Weg. Bei diesem Projekt ging es darum, diese »Steine« bewusst liegen zu lassen. Nicht nur für die Schüler, sondern auch für die Eltern stellte das Projekt eine persönliche Herausforderung dar. Die Eltern mussten loslassen und sich aus dem von den Kindern selbst gesteuerten Planungsprozess heraushalten, keine gutgemeinten oder warnenden Ratschläge erteilen und den Fähigkeiten ihrer Kinder Vertrauen schenken.

Aufgaben gemeinsam bewältigen

Die Vorbereitungsphase auf das Projekt »Herausforderung« erstreckte sich über mehrere Monate. Am Anfang standen von den Lehrern im Unterricht durchgeführte Kooperationsübungen, bei denen die Schüler die Erfahrung machen konnten, dass sie auch scheinbar unlösbare Aufgaben gemeinsam bewältigen können. Dazu zwei Beispiele.

Plane wenden: Die Teilnehmer stehen auf der Plane und versuchen, diese zu wenden, ohne das Umfeld zu betreten.

Am seidenen Faden: Sperrgebiet mit mindestens zehn Meter Durchmesser. In der Mitte ein Hula Hoop Reifen als Insel, auf der ein Schatz liegt. Die Gruppe soll den Schatz bergen, ohne den Boden im Sperrgebiet zu berühren.

Im Unterricht und in selbstständig organisierten Treffen außerhalb der Schule legten die Schüler Reiseziele und -routen fest. Einzige Vorgabe war, dass die Fahrten innerhalb von Baden-Württemberg stattfinden und die Schüler während der Woche möglichst in Bewegung und nicht nur an einem Ort bleiben sollten. Die Schüler erstellten Packlisten und organisierten das benötigte Equipment wie Zelte, Gaskocher und Rucksäcke. Parallel dazu galt es, herauszufinden, wo sich Übernachtungsplätze und Einkaufsmöglichkeiten finden lassen. Regelmäßig präsentierten die Kleingruppen ihre Pläne der gesamten Klasse und stellten diese den Mitschülern zur Diskussion, woraus sich manche Änderung in der Reiseplanung ergab – zum Beispiel wenn Pläne unrealistisch erschienen, zu wenig »Herausforderungscharakter« enthielten oder zu teuer waren. 

Manche Kleingruppe traf sich vorab und probte die Abläufe wie das Fahrradfahren mit Gepäck, den Zeltaufbau oder das Kanu fahren. Übernachtungen wurden vorab festgelegt – auf Zeltplätzen, bei Sportvereinen, in Gemeindehäusern oder Schulen – oder aber absichtlich ungeplant gelassen, um der Reise einen stärkeren »Herausforderungscharakter« zu geben. Schließlich hatten alle Kleingruppen die Vorbereitung abgeschlossen. Von der Radtour um den Bodensee über das Wandern im Schwarzwald bis hin zur mehrtägigen Kanufahrt auf der Enz oder der Mitarbeit auf einem Ponyhof reichten die Pläne.

Auf die Frage, »Was habt Ihr in der Zeit der Vorbereitung auf die Herausforderungswoche gelernt?«, antworteten die Schüler: »Es ist ziemlich schwer, alles alleine zu planen. Da sieht man, wie schwer es Eltern haben.« – »Selbstständig zu planen« oder »unbekannte Leute anrufen, um zu fragen, ob wir übernachten dürfen.« 

Die Begleitpersonen und ihre Aufgaben als »Schatten«

Da Schüler im Alter von 13-14 Jahren noch nicht alleine verreisen dürfen, wurde jeder Kleingruppe eine Begleitperson an die Seite gestellt. Diese jungen Erwachsenen im Alter von 18-25 Jahren waren keine Lehrkräfte der Schule, sondern kamen von außerhalb – zum Beispiel Lehramts-Studenten, die im Idealfall schon pädagogische Erfahrung im Umgang mit Kindern und Jugendlichen gesammelt hatten. Ihre Aufgabe war, sich während der Fahrt wie ein »Schatten« weitestgehend im Hintergrund zu halten und nur bei Gefahr einzugreifen. 

Sollte sich eine Gruppe beispielsweise im Weg irren, durfte die Begleitperson nicht eingreifen. Die Schüler sollten ihre Erfahrungen selbst machen, scheitern dürfen und aus den eigenen Fehlern lernen – das waren zentrale pädagogische Komponenten.

Auf die Frage, »Wie haben Sie das Projekt Herausforderung erlebt?«, antworteten die Begleitpersonen: »Ein Schatten zu sein und wirklich nur in den dringendsten Situationen einzugreifen, ist nicht immer leicht. Wenn alltägliche Dinge, wie Einkaufen sich ziehen und in Diskussionen enden, braucht die Begleitperson einen sehr langen Atem. (...) Schüler begleiten zu dürfen und zuzuschauen, wie sie über sich hinauswachsen und so die Welt aus einem anderen Blickwinkel betrachten zu können,  (...) das kann nur stärken und auf das Leben vorbereiten.«

Die Rahmenbedingungen: Lenkungskreis und Notfalltelefon

Der Klassenlehrer, ein Fachlehrer, Schüler der siebten Klasse und einige Elternteile bildeten einen Lenkungskreis für das Projekt, der sich in der Vorbereitungsphase regelmäßig traf und die Machbarkeit der von den Schülern im Lenkungskreis vorgestellten Projekte diskutierte oder Nachbesserungen einforderte. Es wurde ein Notfalltelefon eingerichtet, das von Eltern aus dem Lenkungskreis im 24-Stunden-Schichtdienst betreut wurde. Dort konnten sich die Begleitpersonen zu jeder Tag- und Nachtzeit per Handy melden.

Auf die Frage, »Was waren die wichtigsten Aufgabenfelder des Lenkungskreises?«, kamen Antworten wie zum Beispiel: »Mir hat es gut gefallen, dass bei jeder Sitzung auch Schülerinnen und Schüler dabei waren, die ihre Projekte persönlich vorgestellt haben und mitsprechen konnten. Bei der Suche nach passenden Begleitpersonen haben wir ebenfalls unterstützt, zum Beispiel indem wir Aushänge für Hochschulen erstellt haben, um Pädagogik-Studenten für unser Herausforderungsprojekt zu gewinnen. Eine weitere Aufgabe war die Unterstützung des Klassenlehrers auf den Elternabenden – hier gab es in der Vorbereitungsphase viele Befürchtungen und Bedenken der Eltern zu besprechen und oft mündete das auch in neuen Aufträgen an den Lenkungskreis – z.B. Klärung von Fragen zur Aufsichtspflicht oder Haftpflichtversicherung der Begleitpersonen.«

Die »Herausforderung«

Die Schüler haben viel von ihren Erlebnissen berichtet. Von erreichten Meilensteinen – »Wir sind 50 km gewandert in nur drei Tagen!« – bis hin zu überwundenen Hindernissen – »Wir mussten die Kanus 750 Meter weit schleppen, weil der Fluss wegen eines Naturschutzgebietes gesperrt war«; vom Einkaufen – »Jeder Einkauf hat eineinhalb Stunden gedauert, weil wir uns nicht einigen konnten, was wir kaufen sollen!« – und der Suche nach Schlafplätzen – »Der Bauer hat uns einfach so in der Scheune übernachten lassen, obwohl er uns gar nicht kannte; vom Spaß am Miteinander in der Kleingruppe – »Wir haben jeden Tag Fußball gespielt und viel gelacht« – bis hin zu Frust und Langeweile – »Es war ganz schön langweilig, weil wir gar keine Handys dabei hatten.« Alle vorab geschmiedeten Reisepläne konnten umgesetzt werden. Am Schluss waren alle stolz, die Herausforderung gemeistert zu haben.

Die Schüler antworteten auf die Frage, »Was hast Du während der Herausforderungswoche gelernt?«: »Fremde Leute nach dem Weg zu fragen«, »Miteinander auszukommen«, »Das gemeinsame Geld zu teilen und einzukaufen« oder »Dass man auch mit richtig wenig Geld auskommt!«

Der Abschluss des Projekts

Zum Ende der Woche traf sich die gesamte Schulklasse mit den Lehrkräften an der Freien Waldorfschule Balingen und verbrachte die letzte Nacht dort gemeinsam. Erlebnisse wurden am Lagerfeuer ausgetauscht und die letzten Einträge in die Reisetagebücher vorgenommen.

Abschließend wurden die Schüler gefragt, »Was hat Dir an dem Projekt Herausforderung gefallen?«: »Freunde genauer kennen zu lernen.« – »Selbstständig zu werden.« – »Andere Leute einfach anzusprechen.« – »Ohne Erwachsene zu planen.« Oder: »Mit Freunden und ohne erwachsene Leute unterwegs zu sein.« – »Dass man eigentlich immer machen konnte, was man wollte.« Oder: »Es war cool, mal eine Woche ganz selbstständig zu sein.«

»Und was hat euch nicht gefallen?«: »Dass manche, obwohl es verboten war, ihre Handys dabei hatten und sich gegenseitig angeschrieben haben.« Oder: »Es war viel zu kurz. Am besten wäre es, wenn es zwei Wochen gewesen wären.«

Was bleibt?

Ob und welche Wirkungen dieses Projekt auf die Schüler hat, wird die Zukunft zeigen. Eines zumindest wurde allen Eltern beim Abholen der Kinder klar: Die Kinder sind in der Projektphase über sich hinausgewachsen und selbstständiger geworden. Sie treten selbstbewusster auf, weil sie eine wichtige Entwicklungsaufgabe erfolgreich gemeistert haben.

Auch dazu wurden sie befragt: »Hast Du Dich durch die Herausforderung persönlich verändert?«: »Ich achte mehr darauf, welche Lebensmittel man kauft und wie teuer sie sind.« – »Ich bin offener zu fremden Leuten.« Oder: »Ich bin gewachsen und selbstständiger geworden.«

Ein Wort von den Lehrern

Und welches Resümee ziehen die Lehrkräfte aus dem Projekt?: »Ich fand vor allem die Atmosphäre unter den Kindern am Abend der Ankunft beeindruckend. Das Mitteilungsbedürfnis der Kinder zeigte deutlich, dass die Woche voller gewinnbringender Erlebnisse war. Die Suche nach den Begleitern war für mich die größte Herausforderung! Die Unterstützung durch die Eltern im Lenkungskreis empfand ich als gelebte Gemeinschaftsarbeit. Jeder konnte und musste sich mit seiner Expertise einbringen, damit wir die Herausforderung überhaupt bewältigen konnten. Ich habe den Eindruck, Herausforderungsprojekte machen lebenstüchtig und lebenssüchtig!«

Oder: »Die erlebnispädagogischen Übungen, die im Vorfeld mit der Klasse durchgeführt wurden, haben den Boden bereitet, auf dem die Planungsarbeit der Schüler Wurzeln schlagen konnten. Für mich als Klassenlehrer war dieses Projekt etwas Herausragendes in meinem Lehrerleben. Die Tatsache, von der ersten bis zur letzten Minute der Planungsarbeit mit Eltern und vor allem auch Schülern auf Augenhöhe an einer gemeinsamen Sache zu arbeiten und gemeinsam für diese verantwortlich zu sein, hatte etwas zutiefst Befreiendes, da ansonsten im Schulleben die volle Verantwortung für das Miteinander in der Klasse am Ende vom Klassenlehrer getragen wird und allein dadurch Grenzen gezogen sind, die ja zum Teil auch wichtig sind. Durch die Auseinandersetzungen im Planungsprozess wurden Grenzen abgebaut, weil wir ein Ziel hatten, das wir ganz frei gewählt haben und erreichen wollten. Dieses Projekt erfordert per se diese Qualität der Zusammenarbeit.«

Zu den Autoren: Svenja Hoyer ist Mutter von drei Waldorfkindern, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Freien Hochschule Stuttgart und hat im Lenkungskreis des Projekts »Herausforderung« mitgewirkt. Heiner Freitag ist Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Ludwigsburg. Moh Portuondo Alvarez ist Werklehrer an der Freien Waldorfschule Schwerin und absolvierte eine erlebnispädagogische Ausbildung.

www.ev-schule-zentrum.de/projekte/herausforderung/  |  www.franzoesische-schule.de/schule-im-tal-lg-7-10/projekt-herausforderung/